KOMMENTARE: Europapolitische Unmündigkeit
■ Warum dürfen die Deutschen nicht über Maastricht abstimmen?
Wenn die Franzosen morgen nein sagen, muß man über das Thema kein Wort mehr verlieren. Anders wenn die Maastrichter Verträge das Votum am Sonntag überleben. Dann stellt sich eine Frage erneut, die in Deutschland bislang keiner so recht beantworten mochte: Warum fragt keiner die deutschen Wähler, ob sie Bürger dieser europäischen Union werden möchten? Warum dürfen die Straßburger ihre Meinung äußern, nicht aber ihre Nachbarn im badischen Kehl?
Außerhalb von Bayern, wo der Protest gegen Maastricht allmählich Formen einer Allparteieninitiative annimmt, hat noch kaum einer in der politischen Klasse diese Frage aufgeworfen. Im Gegenteil: Hinter vorgehaltener Hand wird beklagt, welche Torheit Mitterrand begangen habe, als er die Unionsverträge dem Volk zur Abstimmung vorgelegt habe. Gibt Frankreich am Sonntag das Jawort, werden die deutschen Europapolitiker einfach erleichtert in ihre Sessel zurücksinken.
Die Technokraten könnten aufatmen, doch selbst Anhänger von Maastricht müssen sich fragen lassen, ob hinter dem Verzicht auf ein Referendum nicht falsche Bequemlichkeit steckt. Die Angst vor einem negativen Votum der Deutschen mag begründet sein: Nach der deutschen Vereinigung ist die Abenteuerlust vieler Menschen erschöpft. Andererseits gibt es gerade hier genug Gründe, eine Zustimmung zu Maastricht plausibel zu machen — angefangen von der Exportabhängigkeit bis zur Notwendigkeit, den Nachbarn die Angst vor dem deutschen Koloß zu nehmen.
Einerseits die europapolitische Uninformiertheit der Bürger zu beklagen, ihre Ressentiments sind zu kritisieren. Sie aber andererseits im Stand der Unmündigkeit zu belassen, kann auf keinen Fall funktionieren. Jetzt schon verlangt das Grundgesetz vor jeder Änderung von Ländergrenzen innerhalb Deutschlands einen Volksentscheid der betroffenen Bürger. Warum dann keine Abstimmung über die Abschaffung der Außengrenzen? Daß ein Referendum in der Lage ist, eine qualifizierte Diskussion auszulösen, dafür liefert Frankreich durchaus Beweise. Daß anders als dort in Deutschland innenpolitische Kabale keine übermächtige Bedeutung gewinnen, dafür spricht schon die Einigkeit der deutschen Parteien in Sachen Maastricht. Diese Gleichstimmigkeit nimmt den Wählern gleichzeitig fast jede Chance, ihre Kritik an den europäischen Verträgen bei regulären Wahlen zu artikulieren — es sei denn, sie stimmen für die Rechtsradikalen. Hans-Martin Tillack
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