KOMMENTAR: Eine tarifpolitische Zumutung
■ Die ÖTV lehnt jede Umverteilungskomponente ab
Die Gewerkschaft ÖTV hat mit ihrer 10prozentigen Lohn- und Gehaltsforderung für den öffentlichen Dienst in Westdeutschland ein Signal an ihre Kolleginnen und Kollegen in Ostdeutschland gegeben. Es lautet: Erst mal holen wir für uns, was zu holen ist. Was dann für euch übrigbleibt, sehen wir später. Und sie hat — wieder einmal — ein Signal an jene im öffentlichen Dienst Westdeutschlands gegeben, die am Sockel der Einkommenspyramide nach wie vor mit unwürdigen Gehältern auskommen müssen, den Krankenschwestern, Schreibkräften, einfachen Postbediensteten. Dieses Signal lautet: Wer viel verdient, soll viel dazubekommen, wer wenig verdient, soll weniger dazubekommen. Die ÖTV guckt nicht nach links oder rechts, nicht nach Ost oder West, nicht nach oben oder unten, sondern einfach nur auf eine diffuse Stimmung in der Mitgliedschaft, die nach einigen Jahren Lohnzurückhaltung nun endlich Geld sehen will.
Natürlich ist verständlich, daß die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes nach jahrelanger Hochkonjunktur ihren Anteil am Kuchen einfordern. Aber ist es eigentlich zuviel verlangt, daß eine Gewerkschaft veränderte politische Verhältnisse in ihrer Politik berücksichtigt und auch den Mitgliedern gegenüber vertritt? Ohne deutsche Einheit hätte es vielleicht tatsächlich eine Haushaltskonsolidierung gegeben, die hohe Lohnforderungen im öffentlichen Dienst gerechtfertigt hätte. Aber jetzt? Die einigungsbedingten Haushaltsdefizite, vor allem die Sozialkosten, steigen ins Astronomische. Gewaltige öffentlich zu finanzierende Infrastrukturinvestitionen in Ostdeutschland werden auch von den Gewerkschaften als wichtigste Voraussetzung für den notwendigen Aufschwung angesehen. Und gemeinsam mit Lafontaine stimmen sie ein in das Lied von der unverantwortlichen Staatsverschuldung durch die Kohl-Regierung — und wollen davon nichts mehr wissen, sobald sie ihre westdeutsche Klientel bedienen müssen.
Es ist wirklich nichts dagegen zu sagen, daß die Gewerkschaften bei Lohnverhandlungen auch im öffentlichen Dienst soviel rausholen wollen, wie es eben geht. Aber man kann sehr wohl von ihnen verlangen, daß sie sich Gedanken machen über die Art ihres Eingreifens in die Gestaltung der sozialen Verhältnisse im Land. Die ÖTV hat keinerlei Umverteilungskomponente in ihre Forderung eingebaut, weder von West nach Ost noch von oben nach unten. Damit vertieft sie vorhandene soziale Spaltungen. Daß sie derartige Fragen nicht einmal thematisiert, sondern nur wütend zurückweist, ist eine Zumutung. Martin Kempe
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