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KOMMENTARNicht meine Wirklichkeit

■ Das gebrochene Erinnerungsvermögen des Manfred-Ibrahim Böhme

Die Beweislast gegen Ibrahim Böhme ist erdrückend. Nach den jüngsten Veröffentlichungen kann der ehemalige Vorsitzende der DDR-SPD kaum mehr hoffen, daß seine Unschuldsbeteuerungen — wie im März nach seinem Rücktritt — noch Glauben finden. Ibrahim Böhme hat jahrelang für die Stasi gearbeitet. Ein seriöserer Zeuge als sein früherer Freund, der Schriftsteller Reiner Kunze, ist schwer vorstellbar. Den Schlüssel für die Frage nach Böhmes Durchhaltevermögen, nach den Gründen für seine selbstzermürbenden Entlastungsversuche hat Böhme, konfrontiert mit dem jüngsten Beweismaterial, selbst geliefert. Ob Kunzes Beweisführung den Gesetzen der Logik entspräche, sei irrelevant; sie entspricht, so Böhme auf dem äußersten Punkt seiner Rückzugslinie, „nicht meiner Wirklichkeit“.

Böhme hat nach seinen Stasi-Jahren die vermeintliche Chance eines kometenhaften Aufstiegs, eines Neubeginns als moralisch integrer Oppositioneller und als geachteter Politiker des Neuanfangs ergriffen und — genossen. Schwer zu entscheiden, was an dieser Rolle Tarnung, was später Versuch der Korrektur und Wiedergutmachung gewesen ist. Es scheint, als habe Böhme seine neue Rolle derart verinnerlicht, daß sein Verhältnis zu den dunklen Jahren seiner Biographie mit dem Begriff Verdrängung eher unzureichend bezeichnet ist. Böhme hat „seine Wirklichkeit“ offenbar derart bruchlos halluziniert, daß nicht nur seinen Anhängern und Verteidigern, sondern ihm selbst die Unterscheidungslinie zwischen Trugbild und Realität verschwamm. Es ist eher unwahrscheinlich, daß Böhmes Verteidigungsversuche, seine Selbstpräsentation als Opfer kluger Berechnung entsprangen: Er mag den Schock über das abrupte Scheitern seines Neuanfangs tatsächlich als die ungerechtfertigte Denunziation eines unschuldig Belasteten und Verfolgten erlebt haben.

Zu Unrecht, wie im nachhinein klar wird: Böhme hat nicht wie das Heer der Stasi-Spitzel hier und da einmal über oppositionelle Zirkel und Zusammenhänge berichtet. Er hat — das geht aus Kunzes Dokumentation zweifelsfrei hervor — Freunde systematisch denunziert und akribisch den Zermürbungserfolg seines Tuns festgehalten und weitergegeben. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die exponiert-moralisierende Rolle des Politikers Böhme in anderem Licht. Die immer wieder bestechende Authentizität dessen, der emphatisch auf Versöhnung auch mit den Akteuren der SED- Vergangenheit drängte, war nicht der Großmut des Gerechten, sondern die — freilich versteckte — Hoffnung eines Verstrickten. Aus dieser Quelle speiste sich Böhmes Versöhnungsanspruch. Der ist, auch nachdem die Wahrheit offenliegt, um nichts weniger gerechtfertigt. Doch gescheitert ist Böhmes Versuch der selbstgerecht-erschlichenen Versöhnung. Vor der Versöhnung liegt der Zwang zur rückhaltlosen Selbstvergewisserung und Offenlegung. Um die wird Ibrahim Böhme jetzt nicht mehr herumkommen. Matthias Geis

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