KOMMENTAR: Therapie auch für Täter
■ Der Teufelskreis des Mißbrauchs muß durchbrochen werden
Es hat lange gedauert, bis über das alltägliche Verbrechen sexueller Mißbrauch von Kindern in den Medien berichtet und in der Öffentlichkeit gesprochen wurde. Allein in Berlin wurden in diesem Jahr bereits über 1.000 sexuelle Vergehen an Kindern angezeigt. Die Dunkelziffer ist viel höher. 20.000 bis 30.000 Kinder werden hier jährlich sexuell mißbraucht. 75 Prozent der Opfer, die Mehrzahl sind Mädchen, kennen den Täter. Es ist der Vater, Stiefvater oder eine nahe Bezugsperson. Beratungsstellen für sexuell mißbrauchte Mädchen wie etwa ‘Wildwasser‚, die aus der Frauenbewegung entstanden sind, ist es zu verdanken, daß die Öffentlichkeit ihre Augen vor diesem Verbrechen nicht mehr verschließen kann — auch wenn die Art und Weise, wie mit dem Thema umgegangen wird, bisweilen fragwürdig ist. Die Frauenzeitschrift 'Emma‘ meint in ihrer jüngsten Ausgabe sogar, daß der Inzest zu einem Modethema geworden sei. Erinnert sei hier nur an die Serien von 'Bild‘ und 'Stern‘, die sich nicht scheuten, die sexuellen Angriffe auf Kinder bis ins Detail zu schildern. Auch das Fernsehen hat Schimanski unlängst im Tatort bei der Fahndung nach Kinderschändern über die Bildschirme gejagt.
Die Berichterstattung über sexuellen Mißbrauch ist eine Gratwanderung. Ein Bericht, in dem die Taten nur mit dem Begriff Mißbrauch umschrieben werden, verharmlost die Realität. Eine ungeschminkte Schilderung der Tatsachen zwingt zum Hinsehen. Denn das, was in den Familien täglich geschieht, können sich die wenigsten vorstellen. Allerdings kann die Darstellung eben solcher Tatsachen auch als Wichsvorlage mißbraucht werden.
Den sexuellen Mißbrauch kann die angemessenste Berichterstattung allein nicht verhindern. Denn Kinder werden noch solange sexuell mißhandelt, wie Männer Macht über und Gewalt gegen Frauen und Familien ausüben können. Die beiden einzigen offiziellen Beratungsstellen in Berlin — ‘Wildwasser‚ und ‘KIZ‚ — sowie das Präventivprojekt ‘Strohhalm‚ mit einer Handvoll Angestellten sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch die Täter, die meistens rückfällig werden, können diesem Kreislauf, selbst wenn sie es wollen, nur schwer entkommen. Für sie gibt es in dieser Stadt keine Beratungsstelle, geschweige denn ein Therapieangebot. Ist für mehr Einrichtungen tatsächlich kein Geld da? Wie wäre es, wenn man auf die Umbennung von Straßen und U-Bahnhöfen, auf die Demontage von Denkmälern verzichten würde, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wegsehen und nicht handeln bedeutet, sich mitschuldig zu machen. Martina Habersetzer und Plutonia Plarre
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