KOMMENTAR: Das Leben geht weiter
■ Der beschworene Zusammenbruch der Stadt blieb aus
Seit Tagen wurde von seiten der Regierenden wie der Medien das Chaos beschworen, seit Tagen wurde für West-Berlin der absolute Stillstand prognostiziert — sollte, ja sollte das Unerhörte sich ereignen und die Deutschen nach fast zwanzig Jahren in größerem Umfang in den Streik treten. Von null Uhr bis Mitternacht standen gestern die Räder der BVG weitestgehend still — die Stadt brach dennoch nicht völlig zusammen, das Bruttosozialprodukt wurde weiter erwirtschaftet, in den Schulen weiter unterrichtet. Zweifellos traf der Streik der öffentlichen Verkehrsmittel den Westteil der Stadt an einem besonders sensiblen Nerv, in der nachmittäglichen Rush-hour ging fast nichts mehr auf den Berliner Straßen. Doch sehr überraschend ist es nicht, daß ein Großteil der Berliner in einer solchen Situation das Auto aus der Garage holt und nur in beschränktem Maße fähig ist, Fahrgemeinschaften für den Weg zum Arbeitsplatz zu bilden oder aufs Fahrrad umzusteigen. In die völlige Anarchie versank die Stadt dennoch nicht, selbst die streikenthaltsamen Westdeutschen sind offenbar zu mehr Flexibilität fähig, als ihnen gemeinhin zugesprochen wird. Größer war das Durcheinander im Ostteil der Stadt, der zwar nicht bestreikt wurde, aber plötzlich wieder vom Westen abgeschnitten war. Obwohl der Streik seit Tagen in den Medien breitgetreten wurde, traf viele Ostberliner an der ehemaligen Grenze die Erkenntnis, daß es jetzt nicht mehr, wie mittlerweile gewohnt, weitergeht, offenbar wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ob der Arbeitskampf tatsächlich Bewegung in die Tariflager brachte, wird sich erst erweisen. Das Leben in der Stadt geht weiter — auch wenn Hunderttausende Autofahrer dem Herzinfarkt nahe waren. Der »völlige Zusammenbruch« hat sich als höchst medienwirksame Seifenblase erwiesen und als Einschüchterungsversuch gegenüber den Gewerkschaften in einem Konflikt, in dem es um mehr geht als um einen Tarifstreit. Im »wirklichen Leben« muß viel mehr passieren, damit eine Stadt zusammenbricht. Kordula Doerfler
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