KOMMENTAR: Kolonisierung Ost-Berlins
■ Beim Umgang mit der Baugeschichte gilt zweierlei Maß
Die Kolonisierung des Ostens vollzieht sich auf allen Ebenen, auch im Umgang mit seinen baulichen Hinterlassenschaften. Man muß das Staatsratsgebäude nicht schön finden, auch der Palast der Republik paßt nicht so recht in die klassizistische Linie, die vor dem Krieg Unter den Linden bestand. Diese und andere Bauwerke, von der Stalinallee über die Fischerinsel bis zum nun demontierten Lenindenkmal repräsentieren oder repräsentierten jedoch 40 Jahre DDR-Geschichte, die nun offenbar nach Gusto der West-Behörden zur Disposition steht.
Nun mag sein, daß einiges nicht mehr brauchbar, anderes teuer und renovierungsbedürftig ist, vieles heute nicht mehr so gebaut würde. Warum jedoch wird mit zweierlei Maß gemessen? West- Berlin hat bauliche Sünden genug vorzuweisen, von der Gropiusstadt über den Abriß des Anhalter Bahnhofs, den Steglitzer Kreisel, die teils kahlschlagsanierte Innenstadt oder das ICC — in einiges davon müßte man viele Millionen Mark stecken, um sie zu sanieren. Die breiten Schneisen, die man in Ost-Berlin — zu Recht! — zurückbauen will, im Westen gibt es sie auch, von der Urania bis zum Kaiserdamm. Und die Herrschaftsarchitektur des Nationalsozialismus prägt die Stadt noch immer. Nur: Hier ist keine Rede von Abriß oder Rückbau. Und wenn, dann vorsichtig, unter Einbeziehung von Bürgern und Bezirkspolitikern. Nur im Osten meint man, sich diese imperialistische Geste leisten zu können, und beruft sich darauf, das bauliche Erbe sei durch die kommunistische Vergangenheit diskreditiert. Die Leute, Mitbestimmung nicht gewohnt, werden es schon schlucken.
Der mögliche Abriß des Staatsratsgebäudes zeigt jedoch noch eine andere Dimension von Kolonisierung: Daran wird es sich erweisen, was die Beteuerungen des Senats wert sind, Berlin habe in Hauptstadtfragen die Planungshoheit gegenüber dem Bund. Gibt der Senat hier nach, wird er es überall tun. Eva Schweitzer
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