KOMMENTAR VON INES POHL : Mit Vollgas in die Vergangenheit
Schock. Ausgerechnet Berlin. In der Stadt, in der sich 70 Prozent der WählerInnen für ein linkes Regierungsbündnis ausgesprochen haben, sind die rot-grünen Koalitionsgespräche geplatzt, bevor sie überhaupt richtig begonnen haben. Ausgerechnet die Stadt, die weltweit für ihr alternatives Leben gefeiert wird, bekommt aller Wahrscheinlichkeit nach eine große Koalition.
Sie wird also regiert von selbstverliebten Sozialdemokraten, die in den vergangenen Jahren unter Führung von Klaus Wowereit die Misere im Bahnverkehr nicht in den Griff bekommen haben. Gehsteige wurden im Innenstadtbereich auch nicht mehr enteist. Die Partei, die ein Jahrzehnt mit den Linken ein Bündnis bildete, geht nun mit demselben Mann an der Spitze mit einer CDU zusammen, die spießiger, rückwärtsgewandter und weltferner kaum sein kann.
Das ist bitter für alle, die darauf gebaut haben, dass der WählerInnenauftrag ernst genommen wird und im Berliner Roten Rathaus endlich wieder eine Politik gemacht wird, die eine zukunftsfähige Mischung hinbekommt zwischen sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Wirtschaftspolitik und dabei das, was Berlin so liebenswert macht, bewahrt und weiterentwickelt: das Konzept einer offenen Stadt. Mit dieser Offenheit ist ab jetzt Schluss – zumindest soweit die Berufspolitiker das Sagen haben.
Wie immer sind natürlich die anderen schuld. Die Grünen sagen, Wowereit hätte ja von vornherein nicht mit nur einer Stimme Mehrheit regieren wollen – viel zu anstrengend. Die SPD unterstellt den Grünen eine Engstirnigkeit, die sich auf den absurden Streit versteift, ob eine Stadtautobahn um 3,2 Kilometer verlängert werden darf oder nicht. Sie unterschlägt, dass gerade in Berlin die Verkehrspolitik bei den Grünen lebendiger Gründungsmythos ist, der nach wie vor sehr eng an die aktuelle Existenzberechtigung geknüpft ist.
Wie immer ist vieles nur aus den landestypischen Spezifika heraus zu verstehen. Eines aber gilt bundesweit: Rot-Grün oder Grün-Rot ist kein Selbstläufer, keine Selbstverständlichkeit.
Selbst mit einem solch eindeutigen Wählerauftrag wie jetzt in Berlin zeigt sich, dass die Gräben zwischen dem SPD-Verständnis von Industriepolitik und einem ökologischen Gesellschaftsentwurf unüberwindbar sein können.
Demokratien können es aushalten, dass Verantwortungsträger sich gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung stellen. Aber es bleibt bitter. Und sowohl Grüne wie SPD müssen sich sagen lassen, dass bei allen Streitereien um Details zwei Sachen sicher sind: Dieses Bündnis hat die Mehrheit nicht gewollt. Und Wowereit kann wirklich von niemandem mehr als Linker missverstanden werden.