KINDESMISSBRAUCH: BESSER DAS JUGENDAMT ALS DIE POLIZEI ANRUFEN : Mitwisser werden mitschuldig
Die Forderung klingt zunächst einleuchtend. Wer sexuellen Missbrauch nicht den Behörden meldet, soll künftig wegen „Nichtanzeige geplanter Straftaten“ bestraft werden. Sie wollen so die oft jahrelang bestehende Mauer des Schweigens um solche Taten gezielt einreißen. Dabei ist die Strafdrohung vor allem ein Appell. Denn nur wer „glaubhaft“ von solchen Taten „erfährt“, unterliegt der Anzeigepflicht. Eine bloße Ahnung genügt hier nicht – durchaus zu Recht. Konfliktscheue Menschen könnten daraus jedoch den Schluss ziehen, bald noch konsequenter wegzuschauen, um nicht selbst strafbar zu werden.
Deshalb müssen die Verantwortlichen deutlich machen, dass auch diejenigen, die einem Missbrauch monatelang zugesehen haben, nicht automatisch im Gefängnis landen, wenn sie sich später doch an die Behörden wenden. Wer der Quälerei schließlich doch entgegentritt, kann wohl auf die baldige Einstellung eines Verfahrens wegen „Nichtanzeige“ des Missbrauchs hoffen.
Allerdings ist zu befürchten, dass die mit der Neuregelung verbundenen Aufrufe zu beherztem Eingreifen auch kontraproduktiv wirken, etwa wenn der Polizeinotruf 110 zu früh gewählt wird. Denn immer wieder gibt es Fälle, wo etwa eine 13-Jährige so eingeschüchtert ist, dass sie es noch nicht wagt, gegenüber Fremden den eigenen Verwandten zu belasten. Wenn dann die Intervention zu früh oder zu ungeschickt erfolgt, kann dies dazu führen, dass das Kind in der Familie belassen werden muss und der Täter den Missbrauch mit noch stärkerem Druck auf das Opfer fortführen kann.
Die korrekte Botschaft müsste also lauten: Nachbarn und Bekannte sollen zwar eingreifen, aber überlegt handeln. Lieber sollte man das Jugendamt verständigen, statt die Polizei zu rufen. Lieber sollte man langsam um das Vertrauen des Kindes werben, als brachial, aber erfolglos in der Familie zu intervenieren. Nur konsequent ist es daher, dass mögliche Vertrauenspersonen der Kinder, das heißt Lehrer, Erzieher und Psychologen, von der Anzeigepflicht ausgenommen werden. Denn sie haben die Chance, dem Kind zuzuhören und ihm so wirklich zu helfen. Es ist allerdings zu befürchten, dass ein betroffenes Kind in den Nachrichten zwar von der neuen Anzeigepflicht hört, aber nicht vom Schweigerecht potenzieller Ansprechpartner. Es könnte aus Angst, seinen Vater oder Verwandten sofort ins Gefängnis zu bringen, eher darauf verzichten, sich zu offenbaren.
Bei der Öffentlichkeitsarbeit zu dieser Reform ist also viel Fingerspitzengefühl erforderlich. Dass Ministerin Zypries die Neuregelung nun ausgerechnet in der Bild-Zeitung verkündete, ist deshalb eher befremdlich. CHRISTIAN RATH