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Archiv-Artikel

Jugend in Zeit und Raum

Ist der Teenager ein Alien? Mit Sylke Enders’ „Kroko“ kommt ein neuer Film über das Jungsein ins Kino. Während die Berliner Regisseurin handlungsorientiert erzählt, experimentieren ihre US-amerikanischen Kollegen mit verschobenen Zeitkoordinaten

Beim Blick aus dem Auto weiß man nicht: Ist das New York oder Buenos Aires?

VON ANNETT BUSCH

„Jesus Christ, what happened?“ Mit dieser offenen verkaterten und wohl auch verzweifelten Verwunderung hörte damals, 1995, „Kids“ auf. Was war passiert? Larry Clark und Harmony Korine setzten neue Maßstäbe, indem sie die üblichen Szenen von Elternkonflikt und Erziehungsmethoden aus ihrem Film verbannten. Sie rückten einer lose zusammengewürfelten Gang pubertierender Slacker auf die Pelle, filmten sie beim Knutschen und Fummeln und bei endlosen Gesprächen über Sex. Der Spaß hört auf, als Jennie (Cloë Sevigny) erfährt, dass sie HIV-positiv ist, und die Zeit zu rennen beginnt, obwohl sie sich zuvor unendlich dehnte. Das im besten Sinne Aufreibende und Einzigartige an „Kids“ war weniger, die 13- und 14-Jährigen so abgeklärt und zynisch reden zu hören, als vielmehr, dass Regisseur und Drehbuchautor auf eine ästhetische Perspektive hinter der sozialen Perspektivlosigkeit verzichteten. Sie doppelten mit ihrer um Authentizität bemühten Kamera Langeweile und Leerlauf. Da gab es nichts, womit man sich ablenken konnte.

Fast zehn Jahre ist das nun her, und „Kids“ gehört längst zum Kanon. Was aber ist seitdem passiert? Begriffe wie „White Trash“ wird man nicht mehr los. „Coming of age“-Filme haben alle möglichen identitätspolitischen und ästhetischen Erzählmodelle durchlaufen. Larry Clark hat sich mit „Ken Park“ noch einmal überboten. Es wäre vermessen, zu behaupten, hier einen Überblick über diese Entwicklung geben zu können. Eher geht es darum, einige Bilder und Szenen ins Verhältnis zueinander zu setzen.

Allein in den letzten zwei Jahren häuften sich die US-amerikanischen Independent-Produktionen, die ihre Geschichten zwischen Schizophrenie, Ratlosigkeit und Collegefluren ansiedelten, zwischen Suburbia und Supermarkt, zwischen Tears For Fears und Eminem. Filme wie „Bully“, „Donnie Darko“, „Igby Goes Down“, „L. I. E.“ oder „Rules of Attraction“, „Thirteen“ und der demnächst in Deutschland anlaufende „Elephant“ behandeln ähnliche Sujets, die Protagonisten sind allesamt noch in der Schule, die Zustände mehr oder minder desperat. Time matters, music matters.

Der aktuelle Anlass kommt aus Berlin und heißt „Kroko“. Nach „Lyla“, „Rosetta“, „Rosie“ – und wie sie alle heißen – gibt es nun einen weiteren weiblichen Vornamenfilm. Die Namen beschreiben das Konzept. Ein Individuum wäre vielleicht zu dem imstande, wozu die „Kids“ nicht in der Lage sind. Es sind meist Entwicklungsgeschichten, mit einer jungen Frau im Mittelpunkt, die kämpft, sich behauptet, Probleme meistert, meistens zu wenig Geld hat und mit zerrütteten Familien dealen muss. Das ist bei „Kroko“ nicht anders, wird aber angenehm undramatisch erzählt. Die Regisseurin Sylke Enders nimmt das Tempo und die existenzielle Tragweite raus. Sie schaut auf den Alltag statt auf den Ausnahmezustand und beobachtet ihre Hauptdarstellerin Franziska Jünger ziemlich genau dabei, wie sie ihr ausgetüfteltes Coolsein in verschiedenen Kontexten ausagiert. Zu Hause, in einer viel zu kleinen Wohnung in Berlin-Wedding, mit der jüngeren Schwester, einer überforderten Mutter und deren neuem Freund, in ihrer Gang, der Disco und bei der vom Jugendgericht verordneten Strafarbeit in einer Wohngemeinschaft für Behinderte. Sie sagt kein Wort zu viel, hat ihren Stolz und ist dabei manchmal überfordert. Wie aber einen Fehler eingestehen, das Verhalten ändern, ohne das Image zu verlieren?

Sylke Enders verzichtet weitgehend darauf, Krokos rotziges Verhalten zu psychologisieren, eher spielt sie das Potenzial der ruppigen Verweigerungshaltung durch, um die Schwächen liberaler Sozialpädigogik-Rhetorik aus der Reserve zu kitzeln oder die Scheinheiligkeit der Mutter. Gekonnt geschminkt, die blonden langen Haare stets tadellos frisiert, bewegt sich Kroko wie ein Alien zwischen denen, die sich physisch und psychisch nicht ganz unter Kontrolle haben. Sie läuft mit ihren Codes schlicht ins Lehre, muss sich neue Strategien ausdenken und schließlich einsehen, dass sich diese neuen Erfahrungen und Veränderungen der alten Gang nicht mitteilen lassen. Kroko muss deswegen aber keine ganz andere werden. Jenseits der Dichotomie von hartem Kern und weicher Schale gibt es ein Spektrum, das zu zeigen sich längst nicht mehr viele bemühen. Sylke Enders lässt sich Zeit für differenziertere Lösungen. Die Digi-Bilder, die sie inszeniert, sind schlicht und handlungsorientiert. Eher fürs Fernsehen denn fürs Kino gemacht, dienen sie dazu, die Schauspieler ins rechte Licht zu rücken. Dass ihre Vorbilder dabei Milos Forman oder Ken Loach sind, liegt nahe. Sozialrealismus hat man das mal genannt.

Damit unterscheidet sich „Kroko“ von den oben erwähnten, neuen US-amerikanischen Independent-Produktionen, die wesentlich mehr auf Formen setzten, um sie mit ihren Inhalte zu verschränken. Zeitraffer, Zeitreisen und Zeitlupen sind sowohl Mittel als auch Themen bei „Donnie Darko“, „Elephant“ oder „Rules of Attraction“, auch wenn es vorgründig um ganz Unterschiedliches geht. Auf abstraktere Ebenen wie jene von Zeit abzuheben ist derzeit ein beliebtes Mittel, um neue Erklärungsmuster und Erzählmodelle auszuprobieren. Um dem Zufall größeren Raum zu lassen.

Time flies. Sie fliegt durch die Tears-For-Fears-Videoclips, die der Regisseur Richard Kelly stilsicher in die Handlung von „Donnie Darko“ integriert hat, um Stillstand und subjektive Wahrnehmung zu verschränken. Die Zeit wird in Roger Avarys „Rules of Attraction“, einem Collegefilm, dessen Buch auf Bret Easton Ellis beruht, immer wieder zurückgedreht, so dass die Dinge gar nicht geschehen hätten müssen. Sie werden immer wieder durchgespielt; die monologisierenden Erzähler bleiben in ihren Loops gefangen. Die verspielte Belanglosigkeit ist fast nicht auszuhalten und wird Bret Easton Ellis dadurch vielleicht am ehesten gerecht. We are running out time.

In „Kroko“ schaut Sylke Enders auf den Alltag statt auf die Ausnahmesituation

Ist Zeit eine Lösung? „I don't have time to get into debate“, heißt es in „Donnie Darko“. Donnie Darko sitzt in der Klasse seiner Ethik-Lehrerin. Diese hat eine Lifeline auf die Tafel gemalt, die sich zwischen den Polen Angst und Liebe erstreckt, und fordert nun ihre Schüler auf, bestimmte Fallbeispiele der Skala zuzuordnen. Sie liebt diese einfachen Erklärungen ihres windigen Esoterik-Idols. Aber diese einfachen Modelle entpuppen sich als Farce. Gus van Sant hingegen streift in „Elephant“, der Fiktionalisierung des Schulmassakers von Littleton, durch die Flure des Schulgebäudes und springt fast unmerklich von einer Figur zur anderen, folgt dieser, bis man bemerkt, dass noch gar keine Zeit vergangen ist, denn in der Zwischenzeit war diese andere Figur nur gerade an einem anderen Ort. Bis es schließlich entscheidend wird, wer sich zu welcher Zeit an welchem Ort befindet, in dem Moment, wo es um Leben und Tod geht. Auch wenn van Sant die Attentäter in ein klischeebeladenes Umfeld versetzt, zwischen Videospiele und klassischer Klaviermusik, entzieht er sich doch einer geradlinigen Erklärung, indem er das Augenmerk auf die Wege durch das Schulgebäude legt.

So, what is happening? Man könnte das Fenster noch etwas weiter öffnen. Während man in den USA die Formexperimente mit Zeit und Raum beobachten mag, etabliert sich zugleich ein urbanes Kino, dem es eher darum geht, Geschichten zu erzählen. Wenn die Protagonisten aus ihren Autos blicken, weiß man nicht immer genau, wo man sich gerade befindet. Ob in New York, Tel Aviv oder Mexico City. Eine neue Generation von Filmschaffenden hat die Ästhetiken und scheinbaren Evidenzen der Ersten, Dritten oder Fünften Welt längst über den Haufen geworfen. Und ein neues Feld von Ähnlichkeiten und Unterschieden ließe sich eröffnen, wenn man die Haltungen, Sorgen, Träume und Klamotten der jeweiligen Jugendlichen nebeneinander legte. Was könnten die Geschwister in Tel Aviv aus Nir Bergmans „Broken Wings“, der unlängst im Kino zu sehen war, mit den Nöten von Donnie Darko zu tun haben? Welche Bilder finden die beiden Regisseure für Verlust, Tod und Zukunftsangst? Und welche Musik setzen sie dafür ein?

In jenem Sommer 95, lief zeitgleich zu „Kids“ Mathieu Kassovitz' „La Haine“ im Kino an. Es lag damals nahe, diese beiden Filme zusammenzubringen und auseinander zu dividieren. Man mochte Fragen stellen wie: Was hatten die Kids aus der Banlieue von Paris mit jenen aus New York zu tun? Wie ließen sich sich die Zukunftsperspektiven der jungen Migranten der zweiten Generation mit jener Hoffnungslosigkeit der New Yorker Kids vergleichen? Und nicht zuletzt: Wie verhielt sich das streng kadrierte Schwarzweiß von „La Haine“ zu der Wackelkamera Larry Clarks? Das Exemplarische der damaligen Diskussion – „Kids“ versus „La Haine“ – hat sich heute aufgesplittert: in zig Städte, Erzählungen und Ästhetiken. Und das ist eine Entwicklung, die zu den spannendsten gehört, wenn man zurzeit übers Kino nachdenkt.