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taz FUTURZWEI

Jürgen Habermas zum Ukraine-Krieg „Der Westen hat keine Ziele“

Wer Waffen liefert, dürfe nicht die Mitverantwortung für die Opfer leugnen, sagt Jürgen Habermas.

Habermas diskutiert mit Studierenden im Philosophischen Seminar, Uni Frankfurt am Main, Januar 1969 Foto: Max Scheler/Agentur Focus

taz FUTURZWEI | Dieses Interview wurde von Thomas Meaney im Herbst 2023 geführt und ist zuerst in englischer Sprache in der Literaturzeitschrift Granta erschienen. Herzlichen Dank für die Abdruckgenehmigung.

taz FUTURZWEI: Sie haben sich nie gescheut, zu politischen Themen des Tages Stellung zu beziehen. Der russische Angriff auf die Ukraine und die Frage, wie und in welchem Ausmaß die EU-Staaten und die USA die Ukraine unterstützen sollen, ist da keine Ausnahme. 2022 haben Sie die – von vielen als zögerlich und ausweichend wahrgenommene – Position von Olaf Scholz verteidigt und dargelegt, wie kompliziert die Konstellation wirklich war. Die Deutschen, so argumentierten Sie, könnten den nationalen Patriotismus der Ukrainer nicht einfach bewundern und sie dafür beneiden, bestand eine große Leistung der Nachkriegsdeutschen doch darin, eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Werte des nationalen Patriotismus bereits historisch sind.

Jürgen Habermas: Was mich damals gewundert hat, als ich zwei Monate nach Kriegsbeginn den erwähnten Artikel schrieb,1 und was ich auch bis heute nicht verstehe, richtet sich keineswegs gegen die politisch gebotene Parteinahme des Westens für den Kampf der Ukraine gegen einen mörderischen Aggressor. Über die normative Beurteilung der russischen Invasion gab es nie einen Zweifel, und ich halte auch die militärische und logistische Unterstützung der Ukraine für richtig. Aufgeschreckt hat mich in jenen ersten Tagen und Wochen des Krieges die Gedankenlosigkeit und Kurzsichtigkeit einer emotional bewegten und hemmungslosen Identifizierung mit dem Kriegsgeschehen als solchen. Ich war nie Pazifist. Aber ich habe den Überfall auf die Ukraine als die schicksalhafte Übertretung einer in Europa inzwischen selbstverständlich gewordenen Hemmschwelle gegenüber der archaischen Gewalt des Krieges erlebt. Aber dann löste dieser Ausbruch des Krieges mit einer Atommacht bei uns kein erschrockenes Nachdenken aus, sondern unvermittelt eine hoch emotionalisierte Kriegsstimmung wie gegen einen vor der eigenen Tür stehenden Feind. Diese bellizistischen Reflexe – so als hätten wir nicht inzwischen gelernt, „Krieg in Europa“ als eine überwundene zivilisatorische Stufe zu betrachten – haben mich ziemlich irritiert.

Die Frage ....

Ihre Frage bezieht sich aber auf einen bestimmten Aspekt, der mich an dieser gedankenlosen Kriegsbereitschaft irritiert hat: das war nicht die selbstverständliche Parteinahme für die überfallene Ukraine, sondern der fehlende psychologische Abstand zu ihrem entflammten Nationalbewusstsein. Als gäbe der Vorgang, dass vor unseren Augen eine kulturell, sprachlich und historisch keineswegs homogen zusammengesetzte Bevölkerung gewissermaßen unter dem Druck dieses brutalen Angriffskrieges zu einer Nation zusammenwächst, auch nicht den geringsten Anlass zur Kritik. Aber wir sollten ihn als historischen Vorgang verstehen. Wir haben in der Bundesrepublik ein halbes Jahrhundert gebraucht, um zu unserer eigenen nationalistischen, überdies durch Menschheitsverbrechen extrem belasteten Vergangenheit den gebotenen kritischen Abstand zu gewinnen. Dass es jedoch bei der stürmischen Identifizierung mit dem Kriegsgeschehen für eine Wahrnehmung dieser Mentalitätsdifferenz kein Anzeichen gab, hat mich erstaunt.

Ganz abgesehen von deutschen Befindlichkeiten, halte ich die historisch geprägten Unterschiede zwischen den politischen Mentalitäten der drei so oder so am Krieg beteiligten Parteien überhaupt für aufschlussreich. In Russland hat sich – nach dem Untergang des osmanischen und des österreichisch-ungarischen Reiches im Ersten Weltkrieg – der versteinerte Rest einer imperialen Mentalität erhalten. Diese trifft nun auf den vom Krieg entflammten Nationalismus der Ukrainer, während im Westen, vielleicht am stärksten in der Bundesrepublik und am schwächsten im United Kingdom, wenigstens die Hoffnung auf die Verbreitung jenes postnationalen Geistes bestanden hatte, aus dem ja am Ende des Zweiten Weltkrieges die Menschenrechtsordnung der Vereinten Nationen hervorgegangen ist. Diese politische Mentalität hat jedenfalls in der EU, und insbesondere innerhalb des Schengen-Raums, für die dauerhafte Zusammenarbeit und das gegenseitige Verständnis über nationale Grenzen hinweg eine große Bedeutung gehabt. Es ist einfach informativ und nützlich, sich diese Mentalitäten klarzumachen, aus denen sich – ganz unabhängig von der eindeutigen völkerrechtlichen Beurteilung des Krieges – verschiedene Perspektiven auf Art, Ursache und Fortgang des Konflikts ergeben.

Glauben Sie, dass die Europäische Union mit einer Aufnahme der Ukraine das Risiko eingehen würde, die Rückkehr eines Nationalismus älteren Stils zu befördern, der den Verfassungspatriotismus, dem Sie so viel von Ihrem Denken und Handeln gewidmet haben, an den Rand drängen oder zumindest herausfordern könnte?

Nein, das würde keinen Unterschied machen; an der Ostflanke der EU haben wir doch längst Mitgliedstaaten, die auf ihre erst nach 1990 erworbene staatliche Souveränität gegenüber Brüssel stärker pochen, als es manchmal den Erfordernissen gemeinsamen Handelns guttut. Ein historisch aufgeklärter Blick auf die verschiedenen Mentalitätsentwicklungen und Interessenlagen innerhalb der westlichen Allianz mag eher zur Erklärung des eigentlichen Punktes meiner politischen Beunruhigung beitragen. Unter Führung der USA hält der Westen den Krieg gewissermaßen am Laufen – ohne erkennbare Versuche, ihn einzudämmen. Gewiss, schon wegen der Eskalationsgefahr sind die westlichen Regierungen keine „Traumwandler“ mehr, aber ich fürchte, dass ihnen der Konflikt immer mehr aus der Hand gleitet. Jedenfalls entfaltet er im Fortgang eine globale Spaltungsdynamik, die die Lage einer bisher wenigstens wirtschaftlich, wenn auch auf asymmetrische Weise, halbwegs integrierten Weltgesellschaft völlig ins Rutschen bringt.

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Europa und Nordamerika haben viel vorangebracht und einiges verbockt. Nun geht es so nicht mehr weiter. Aber wie dann? Es kann schon morgen oder übermorgen vorbei sein mit dem Westen.

Über den Zerfall einer Weltordnung

U. a. mit Joschka Fischer, Dana Giesecke, Maja Göpel, Jürgen Habermas, Wolf Lotter, Jörg Metelmann, Marcus Mittermeier, Ella Müller, Luisa Neubauer und Harald Welzer. Ab 11. Juni am Kiosk

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Die westlichen Regierungen wollen eine formelle Beteiligung am Krieg vermeiden. Beunruhigend finde ich aber von Anbeginn die Perspektivlosigkeit; sie versichern der Ukraine bis zu dieser Schwelle unermüdlich ihren unbegrenzten militärischen Beistand, ohne ihre politischen Ziele zu erklären. Offiziell überlassen sie alles Weitere der ukrainischen Regierung und dem Waffenglück ihrer Soldaten. Dieser Verzicht auf erklärte politische Ziele ist umso unverständlicher, je mehr sich im Fortgang des Krieges zeigt, wie sich die geopolitischen Konstellationen zu Ungunsten der absteigenden Supermacht USA und der international handlungsunfähigen EU verändern. Deshalb habe ich vor Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz in einem weiteren SZ-Artikel daran erinnert,2 dass der Westen mit seinem militärischen Beistand, von dem ja die Fortsetzung des Krieges abhängt, eine moralische Mitverantwortung übernommen hat. Ganz unabhängig vom Widerstandswillen der Ukrainer trägt er mit seiner logistischen Hilfe und seinen Waffensystemen eine Mitverantwortung für die täglichen Opfer des Krieges – für jeden weiteren Toten, jeden weiteren Verwundeten und jede weitere Zerstörung von Krankenhäusern und lebenswichtigen Infrastrukturen. Daher wäre es auch kein Verrat an der Ukraine, sondern eine normativ gebotene Selbstverständlichkeit, wenn die USA und Europa hartnäckig alle Chancen für einen Waffenstillstand und einen für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss ausloten würden.

In den 1990er-Jahren haben Sie die NATO-Intervention auf dem Balkan verteidigt. Doch jetzt sind Sie der vielleicht sichtbarste deutsche Skeptiker gegenüber der insbesondere über die NATO organisierten Unterstützung der Ukraine.

Ich habe soeben erklärt, warum das eine unzutreffende Unterstellung ist: Ich habe mich nicht gegen eine wirkungsvolle Unterstützung der Ukraine ausgesprochen. Ich kritisiere den Verzicht auf eigene Perspektiven und Ziele des militärischen Beistandes und ebenso die Verleugnung der eigenen moralischen Mitverantwortung für die Opfer des Krieges.

Aber haben Sie sich inzwischen nicht doch verändert oder hat sich der Kontext geändert? Hatte Ihre Unterstützung für die Balkan-Intervention damit zu tun, dass Sie diese als solidaritätsstiftend für Europa ansahen? Befürchten Sie nun, dass die Ukraine-Politik das Gegenteil bewirken könnte? Kurzum: Warum waren Sie in den 1990er-Jahren auf der Seite der liberalen humanitären Interventionisten? Und warum vertreten Sie jetzt eine Position, die sonst eher mit der harter Linker, aber auch mit der US-amerikanischer Realisten wie John Mearsheimer oder der von Experten der RAND Corporation in Verbindung gebracht wird?

Ich habe die auf Carl Schmitt und Hans Morgenthau zurückgehende Auffassung des politischen Realismus immer für falsch gehalten, dass es zwischen Nationen keine Gerechtigkeit geben kann. Das schließt eine zufällige Übereinstimmung in einzelnen Schlussfolgerungen, die wir aus verschiedenen Prämissen ziehen, nicht aus. Den völkerrechtlich zweifelhaften Kosovokrieg, den die NATO 1999 ohne Beschluss des Sicherheitsrates auf Drängen der US-Regierung unter Bill Clinton geführt hat, habe ich damals aus humanitären Gründen für legitim gehalten. Das war ein schwerwiegendes Urteil, denn seit Gründung der Bundesrepublik handelte es sich um den ersten militärischen Einsatz der Bundeswehr. Gleichwohl habe ich diesen seinerzeit mit ähnlichen Qualifikationen wie der führende Völkerrechtler Christian Tomuschat als humanitäre Intervention für gerechtfertigt gehalten. Mit europapolitischen Hoffnungen hatte das gar nichts zu tun. Vielmehr hatte das Ende des Kalten Krieges Hoffnungen auf eine dauerhaft befriedete Weltgesellschaft geweckt. Wir konnten damals schon auf ein Jahrzehnt der humanitären Interventionen zurückblicken – auch wenn diese nicht immer erfolgreich gewesen waren. Am Anfang des Jahrzehnts hatte das Programm von George Bush Senior gestanden: Unter Führung der damals noch einzigen und unbestrittenen Supermacht sollte das im Medium des Völkerrechts längst etablierte Menschenrechtsregime nun auch politisch durchgesetzt werden. Es gab genügend Anhaltspunkte für den Willen und die Fähigkeit der USA, eine andere Politik zu verfolgen als die, die wir heute – nach George W. Bushs abenteuerlichen Interventionen, nach Obamas politischer Halbherzigkeit und nach vier Jahren Irrationalität eines Typen wie Trump – von einer absteigenden und unberechenbar gewordenen Supermacht erwarten dürfen. Bidens Regierung, über die wir alle erleichtert sind, ist nicht in Stein gemeißelt.

Am Ende der 90er-Jahre waren die USA noch eine Supermacht, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg auch jenseits Europas eine unbestrittene Autorität erworben hatte. Gleichzeitig konnten wir auf eine Welle von Neugründungen demokratischer Regime zurückschauen. In Academia hatten Disziplinen wie die Friedensforschung, die internationalen Beziehungen und das Völkerrecht einen enormen Aufschwung erfahren. Die von deutschen Juristen angestoßenen Entwürfe zu einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts wurden noch ernsthaft diskutiert. Viele Juristen sahen damals gute Gründe für den Erfolg einer Politik der weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte. Es ist zu billig, sich über einen solchen Idealismus rückblickend lustig zu machen. Jeder gute Zeithistoriker schreibt Geschichte nicht nur zynisch vom enttäuschenden Ergebnis her, so als hätte es der hartgesottene Realismus immer schon besser gewusst! Im Bewusstsein der Kontingenzen geschichtlicher Ereignisse wird der Historiker auch jene enttäuschten, aber seinerzeit nicht unbegründeten Intentionen und Hoffnungen würdigen, die das Handeln der mit ihren Plänen gescheiterten Protagonisten geleitet haben. Wir erkennen oft erst nachträglich, warum sie gescheitert sind.3

Wenn Sie sich also an den historischen Kontext jener Jahre erinnern, liegt der Kontrast mit der heutigen Situation auf der Hand. Eine absteigende und im Inneren politisch zerrissene Supermacht konzentriert sich heute in erster Linie auf die Konkurrenz mit der aufsteigenden Großmacht China, während die EU nach wie vor zersplittert und von innen durch rechtspopulistische Bewegungen geschwächt ist. Die lautstark beschworene Einheit und Stärke der NATO ist schon eine Reaktion auf den Umstand, dass sich inzwischen die geopolitische Lage drastisch zuungunsten des Westens verändert hat. Aus postkolonial aufgeklärter Sicht kann der Westen nicht mehr die Backen aufblasen, um mit normativen Appellen an eine Menschenrechtsordnung, die er selber verletzt hat, neutrale Mächte wie Indien, Brasilien und Südafrika zur Parteinahme gegen Russland für eine Unterstützung der Ukraine gewinnen. Mit der Schwächung seines eigenen geopolitischen Einflusses, wie sie jüngst noch von Fiona Hill selbstkritisch dargestellt worden ist,4 hat der Westen, empirisch betrachtet, die globale Glaubwürdigkeit und Autorität verloren, die nötig wären, um sich wie noch in den 90er-Jahren mit normativen Argumenten zum Anwalt der politischen Durchsetzung der Friedens- und Menschenrechtsordnung zu machen.

Ich glaube nicht, dass die EU noch eine Zukunft als ein global einflussreicher Akteur haben wird.

Nicht als wären unsere normativen Argumente heute nicht ebenso richtig wie damals; aber heute müssen wir wohl eher die Sorge haben, dass die Grundsätze der UN durch eine „ohnmächtige“ politische Rhetorik, sei diese nun ein Zeichen von politischer Naivität oder von Chuzpe, nicht auch noch den Rest von internationaler Anerkennung verlieren. Die inzwischen üblich gewordene Rede von „unseren Werten“ trägt eher zur Entwertung vernünftig gerechtfertigter Grundsätze bei.

Ihre Beiträge in deutschen Zeitungen lassen Sie wie einen Berater der Sozialdemokraten erscheinen.

Politikberatung war nie meine Sache. Auch ohne Parteibuch verstehe ich mich zwar als linken Sozialdemokraten; aber als öffentlicher Intellektueller habe ich die SPD zeitlebens kritisiert.

Was halten Sie von den deutschen Grünen? Wie kommt es, dass eine Partei, die einst auf der Angst vor und der Ablehnung von Atomkraft – und Atomwaffen – aufbaute, nun die Partei ist, die am ehesten bereit ist, einen Atomkrieg zu riskieren? Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? Hat sich nach 1989 eine Art antitotalitärer Bazillus in der Partei breitgemacht?

Die Grünen haben das historisches Verdienst, das Thema des Klimawandels auf die politische Agenda gesetzt zu gaben. In Deutschland haben sie freilich inzwischen ihren linken sozialpolitischen Flügel abgestoßen; ihre jungen Wähler stammen überwiegend aus ähnlichen Milieus wie die wirtschaftsliberalen Freien Demokraten. Und was ihre „antitotalitäre“ Haltung angeht, bin ich unschlüssig. In Deutschland ist dieser Ausdruck selten symmetrisch, sondern fast immer nur gegen links verwendet worden.

Sie sind seit Langem ein Skeptiker der NATO und haben in den 1980er-Jahren sehr scharfe Worte für die Organisation gefunden. Gemeinsam mit Frankreichs Präsident Macron fordern Sie, dass Europa eigene Selbstverteidigungskapazitäten entwickelt. Würde das auch bedeuten, dass sich Europa aus so etwas wie einer amerikanischen Vormundschaft befreit? Und ist eventuell die NATO selbst das Haupthindernis für jede unabhängige europäische Verteidigungsinitiative? Es gibt Beobachter, die der Ansicht sind, dass das aus US-amerikanischer Sicht von jeher eine wichtige Funktion der NATO war, aber auch, wenn man so weit nicht gehen möchte: War und ist die NATO für Washington ein nützliches Instrument, um Europa in anderen Bereichen wie Handel und Währungspolitik Zugeständnisse abzuringen?

So arbeiten wir uns an einem Missverständnis nach dem anderen ab. Aber der Reihe nach: Ich genieße in der deutschen Öffentlichkeit die Reputation einer lupenreinen proamerikanischen Einstellung. Das ist bei meinem Jahrgang auch kein Verdienst. Als Verdienst rechne ich mir an, in der alten Bundesrepublik immer wieder auf die Notwendigkeit einer „normativen“ Identifikation mit der politischen Tradition und Kultur des Westens hingewirkt zu haben. Die NATO kam vielleicht ins Spiel, wenn ich darauf beharrt habe, dass eine „instrumentelle“ Westorientierung aus Gründen des militärischen Schutzes, den uns die USA während des Kalten Krieges gewährt haben, nicht genügt. Denn damit „allein“ wäre aus dem Adenauer-Deutschland – mit seiner ungebrochenen personellen Kontinuität von ehemaligen Nazis in fast allen Funktionsbereichen – kein zuverlässig demokratischer Partner geworden. Sie können gar nicht wissen, wie oft ich seit meiner Heidegger-Kritik 1953 gesagt und geschrieben habe, dass sich bei uns Antiamerikanismus stets mit den fragwürdigsten deutschen Traditionen verbunden hat.

Aber wenn die NATO auch die Möglichkeit einer annähernden europäischen Autonomie in Weltangelegenheiten verhindert, wäre es dann nicht lohnenswert, eine eher gaullistische Position einzunehmen und die Möglichkeit eines Austritts aus der NATO zu erwägen?

Ich kann mich nicht erinnern, je den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO gefordert zu haben. Und mit Gaullismus hatte ich nie etwas am Hut. Das ist wohl auch der falsche Name für die Europapolitik von Marcron, dessen ehrgeizige Initiativen für ein in der Welt politisch handlungsfähiges Europa alle am Widerstand der deutschen Bundesregierung, vor allem an Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren Finanzministern Schäuble und Scholz, gescheitert sind. Allerdings haben Macrons Pläne wohl ebenso wenig im Interesse der amerikanischen Regierung gelegen. Aber das alles ist Vergangenheit. Ich glaube nicht, dass die EU noch eine Zukunft als ein global einflussreicher Akteur haben wird. Wenn Macron heute im Hinblick auf den Ukrainekrieg intelligent an die Interessendifferenzen erinnert, die auch zwischen den USA und den Westeuropäern bestehen, befolgt er doch nur ein ganz normales Gebot der politischen Klugheit. Und ist es nicht eher ein Fehler der Europäer, die für den Westen insgesamt eingetretene Verschlechterung der geopolitischen Lage zu vernachlässigen? Und ist es für die längerfristige Unterstützung der Ukraine nicht eher gefährlich, wenn wir die Augen vor der Unberechenbarkeit eines Partners verschließen, von dem auch unsere eigene Sicherheit immer noch vollständig abhängt? Die spätestens seit Trump offensichtliche politisch-kulturelle Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die Auflösung des amerikanischen Parteiensystems und die Erschütterung wichtiger politischer Institutionen wie des zur Unparteilichkeit verpflichteten Supreme Court sind Entwicklungen, die sich, wenn sie an die Rolle von Newt Gingrich denken, schon seit Mitte der 90er-Jahre angebahnt haben; und sie haben, wie ich fürchte, tiefer greifende Wurzeln.

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1 Habermas, Jürgen: War and Indignation. The West's Red Line Dilemma (SZ 29.04.2022). https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/the-dilemma-of-the-west-juergen-habermas-on-the-war-in-ukraine-e032431/?reduced=true

2 Habermas, Jürgen: A Plea for Negotiations (SZ 15.02.2023). https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/juergen-habermas-ukraine-sz-negotiations-e480179/?reduced=true

3 Eckel, Jan; Stahl, Daniel (Eds.): Embattled Visions. Human Rights since 1990. Göttingen 2020

4 Hill, Fiona: Ukraine in the New World Disorder. The Rest's Rebellion against the United States. https://news.err.ee/1608977948/fiona-hill-ukraine-in-the-new-world-disorder