Judith Holofernes im Interview: Lieb war gestern

Judith Holofernes war Feministin – und wollte beruflich und privat immer nett und unkompliziert sein. Eines Tages ging es einfach nicht mehr.

Judith Holofernes Foto: Christoph Voy

taz FUTURZWEI: Liebe Frau Holofernes, der schönste Satz Ihres Buches Die Träume anderer Leute lautet: »Es geht nicht darum, milde Sympathien in möglichst vielen Leuten zu wecken, sondern es geht darum, die Leute zu finden, die das, was ich mache, wirklich lieben.« Ist das der Kern von allem in Kunst und Leben?

Judith Holofernes: Ja, vielleicht. Es ist das, was ich schon die ganze Zeit geahnt habe. Das Buch ist meine ganze Geschichte von 2012 bis 2019. Den Gedanken, den Sie als Kern rausgezogen haben, den hatte ich schon 2012, aber ich habe mich immer wieder davon abbringen lassen. Wenn man im Pop unterwegs ist, hat man natürlich noch stärker diese Prämisse, dass es ganz wichtig ist, ganz vielen Leuten milde zu gefallen.

Die Frau:

Gründerin, Sängerin und Texterin der Popband Wir sind Helden. Vier Alben zwischen 2003 und 2010 Die Reklamation, Von hier an blind, Soundso, Bring mich nach Hause). Danach zwei Soloalben (Ein leichtes Schwert, Ich bin das Chaos), ein Tiergedicht-Band (Du bellst vor dem falschen Baum).

Der Wir sind Helden-Hit Nur ein Wort läuft regelmäßig als Titelmelodie der ZDF-Gesprächssendung Markus Lanz.

Jahrgang 1976, geboren in Berlin, aufgewachsen in Freiburg, lebt mit Mann und zwei Kindern in Berlin.

2019 verkündete sie ihre Rücktritt »vom überaus ehrenhaften Amt des Judith-Holofernes-Seins«. Ihre Musik, Texte und ihr Podcast Salon Holofernes sind seither auf patreon.com/judithholofernes abonnierbar.

Das Buch:

Judith Holofernes: Die Träume anderer Leute. KiWi 2022 – 416 Seiten, 24 Euro

Bei der Frankfurter Buchmesse spricht Judith Holofernes mit taz FUTURZWEI-Chefredakteur Peter Unfried: Freitag, 21. Oktober, 14 Uhr, Halle 3.1, Stand D 72

Ist »milde« hier das Schlüsselwort?

Ja, denn wenn du mit Plattenfirmen sprichst, würde niemand von der Intensität der Verbindung mit den Fans sprechen. Es geht immer darum, wie viele Leute man erreicht. Aber wenn ich überlege, wie es sich anfühlt, ein wirklich echter Fan zu sein, und was das für einen bedeutet, dann ist das etwas Besonderes. Und gleichzeitig ist es so, dass man das vielleicht heutzutage – diese milde Zuneigung von Millionen oder sagen wir auch nur: die Duldung – gar nicht mehr braucht. Alles in diesem Berufsfeld – inklusive Social Media – ist auf das Gegenteil von intensiven Beziehungen ausgelegt. Mehr ist immer besser, aber kaum jemand fragt sich, was diese Likes auf Instagram für einen tatsächlichen Wert haben. Übertragen die sich in etwas, das Relevanz hat, wie Konzertbesuche?

Wenn Sie so fragen, dann wohl nicht.

Die Reichweite, beispielsweise bei Spotify, hat gar nichts mit Intensität der Beziehung zu tun. Das ist wie beim Bügeln früher, man will eine Playlist, die nicht stört. Es kann passieren, dass Bands, die einen großen Spotify-Hit haben, weil ihr Song in einer populären Playlist gelandet ist, aus allen Wolken fallen, wenn sie dann auf Tour gehen und keiner kommt.

Was fehlt?

Das ist oft dieser Wohlfühl-Indie-Sound, der läuft in Cafés, am Sonntagmorgen, und das bedeutet aber nicht, dass sich irgendjemand merkt, von wem der Song ist. Als Künstler braucht man aber eine starke Verbindung, und die Frage ist: Wie baut man heute so eine Verbindung auf?

Wenn man eine Million Spotify-Hörer hat, dann steckt darin kein Wert?

Naja, ein bisschen Weihnachtsgeld. Ein paar Tausend Euro. Aber selbst dann stecken halt dahinter oft keine Fans, die das lieben, sondern Leute, die das milde tolerieren.

Ihre Songs, Texte, Podcasts sind seit 2019 auf der Social-Payment-Plattform Patreon ab 3 Euro pro Monat abonnierbar. Das sind die Leute, denen Sie »wirklich wichtig sind«? Ist das nicht das Gegenteil von der Oberflächenkunst Pop, wie wir sie kannten?

Genau. Aber selbst, wenn man sich als total »pop« definiert, ist es trotzdem sinnvoll, darüber nachzudenken, dass das eine Beziehung zu den Fans ist, die gepflegt gehört. Davon sprechen bei Plattenfirmen nur die Klügsten. Die Business-Leute wollen, dass man die Energie immer reinsteckt, um neue zu finden. Wenn ich sage, toll, meine Single läuft auf Flux FM, dann sagen die: Naja, Flux FM, die Leute hast du doch eh. Das widerstrebt mir nicht nur emotional, es geht auch einfach nicht auf. Denn wenn du 2.000 inbrünstige Fans hast, um die du dich lange und intensiv gekümmert hast, dann kannst du davon schon leben, wenn du dich ein bisschen schlau anstellst. Aber eine Plattenfirma natürlich nicht, das ist der Punkt.

Wann immer es in meinem Beisein in links-alternativen Milieus um die Frage ging: Welche Frau könnte denn auf ein Podium, könnte einen Preis verleihen, einen Fragebogen ausfüllen, dann war die reflexhafte Standardantwort immer – und zwar wirklich immer: Judith Holofernes. Oder auch nur »die von Wir sind Helden«.

Das ist schön.

Sie lachen?

Daran ist mein Manager immer verzweifelt.

Das trifft doch auch das, worüber Sie sprechen: Ein breiter Kreis von Leuten findet einen okay, ohne sich je wirklich ernsthaft mit dem künstlerischen Kern beschäftigt zu haben?

Das ist natürlich etwas, wodurch man in Talkshows eingeladen wird. Zu manchen gehe ich auch gerne und manche Leute mochten mich auch, nachdem sie mich gesehen hatten. Aber irgendwann habe ich mich dann auch gefragt: Hat das etwas mit dem zu tun, was ich mache, überträgt sich das überhaupt in irgendwas oder bin ich einfach nur ein gelungener Talkshow-Gast? Andere Künstler haben das gemacht, weil sie ein konkretes Interesse an Prominenz hatten, weil sie genau davon leben, das heißt, sie werden dann für ihre Anwesenheit bei Events bezahlt. Für mich hat sich Prominenz aber nie in Lebensunterhalt übersetzt, da ich die bezahlten Events nicht mache.

Woraus folgt?

Dass mir irgendwann aufgefallen ist: Ich mache das alles für nichts.

Sie sind nun mal im Weltrettungsgewerbe verortet, da macht man das für einen höheren Zweck.

Ja, und das ist auch okay, wenn ich irgendwo wirklich etwas beizutragen habe. Es gibt auch Themen, über die ich seit zwanzig Jahren nachdenke. Aber nur, weil ich auch nach zwei Tagen Nachdenken, oft schon was Sinnvolles sagen kann, heißt das nicht, dass ich es sollte.

Ihr biografischer Bruch, Frau Holofernes, ist einerseits singulär, weil Popstars sonst nicht sagen, dass sie keine Popstars mehr sein wollen oder können. Gleichzeitig scheint gerade bei Frauen ein Punkt im Leben zu kommen, wo sie sagen: Ich will nicht mehr nett sein und im Sinne des Ganzen funktionieren.

Es ist schade, ich beobachte das bei mir selbst und anderen Frauen in meinem Freundeskreis, dass diese Frauen erst ab Mitte vierzig aufwärts merken, dass es ihnen vielleicht zu blöd ist, wie sie ihr Leben bis jetzt ausgerichtet haben. Oft betrifft das dann auch alle Lebensbereiche. Überall hat man keinen Bock mehr. Für mich ist die Tragik der Geschichte und der Grund, warum ich das Buch geschrieben habe: Ich hatte die klaren Instinkte bereits, als wir mit den Helden aufgehört haben, und sie waren der Grund, warum ich aufgehört habe. Ich wusste, ich muss viel radikaler sein, ich muss alles anders machen und ein anderes Leben muss möglich sein als Musikerin. Ich hatte auch Ideen, wie was aussehen soll. Um dann acht oder zehn Jahre später zu merken: Ich habe kaum etwas von dem umgesetzt, was ich damals schon wusste.

Warum nicht?

Das habe ich mich dann auch gefragt: Was waren die Kräfte in mir, aber nicht nur in mir, sondern auch gesellschaftlich und auch in meinem Business, die mich daran gehindert haben? Was macht es so schwer?

Dass Sie sind, wie Sie sind, schon auch?

Ja. Wenn man dann noch jemand ist, der gerne allen gefallen will, ist es schwer. Ich wollte zwar radikal sein, aber ich wollte auch nie, dass jemand sauer auf mich ist. Ich wusste, wie ich leben will, was ich machen will, was ich nicht machen will, aber sobald jemand gesagt hat, das funktioniert so nicht, egal ob auf der Arbeit oder im Privaten, dann wurde es für mich schwierig.

Sie schreiben ja auch, dass Sie Verantwortung spürten gegenüber anderen Menschen, die von Ihrer Arbeit und Ihrem Erfolg abhängig waren.

Es gibt im Buch ein Kapitel über Ehrgeiz. Meine Theorie, warum es so schwer ist, etwas anders zu machen, ist neben Gefallsucht und pathologischer Freundlichkeit auch, dass viele Frauen ein ungeklärtes Verhältnis zu ihrem eigenen Ehrgeiz haben – und zwar seit Kindertagen. Ein Teil des Problems ist, dass es in der deutschen Sprache keine Worte für verschiedene Formen des Ehrgeizes gibt. Im Englischen gibt es auch glee, das ist die Freude, am eigenen Scheinen und darüber, dass man etwas gut kann.

In der schon auch verkniffenen Kultur der linksliberalen Bundesrepublik wird das eher negativ gesehen, wenn jemand so den Kopf rausstreckt.

Das ist in Deutschland besonders stark so, weil wir diese Unterscheidung auch nicht haben. Es gibt Ehrgeiz. Punkt. Und für Mädchen, die in den 80ern sozialisiert wurden, ist Ehrgeiz immer noch schwierig besetzt. Ich hoffe, das hat sich jetzt ein bisschen geändert. In Filmen gab es für mich damals als Vorbilder nur intrigante Schlampen, die sich hochschliefen, oder kalte Frauen mit Schulterpolstern. Die positiv dargestellten Frauen waren Opfer in Hotpants, die hatten keine eigene Agenda. Frauen, die aktiv Handlungen vorantrieben, waren Dominatrixe, also immer negativ besetzt. Deswegen war es für mich auch schwierig, freundschaftlich mit dem eigenen Ehrgeiz umzugehen. Mit der tieferen Sicht, die ich jetzt durch das Schreiben bekommen habe, merke ich, dass es ein großes Problem ist, weil man dadurch nicht zu seinen eigenen Zielen stehen und nicht sagen kann: Ich will das. Etwas sehr zu wollen, ist immer schlecht. Aber der Ehrgeiz ist ja trotzdem da, er wird nur genügsam. Dadurch war ich lange Zeit sehr einfach umzuleiten auf die Ziele von anderen Leuten.

Sie brauchen eine mehrjährige zweite Schleife, in der Sie, Judith Holofernes, die Solokarriere, wollen sollten.

Ja, damit bin ich mittlerweile auch versöhnt. Mir geht’s jetzt gut, mit dem was ich wirklich machen will. Es funktioniert und fühlt sich genau so an, wie ich wollte. Aber zwischendurch war das alles eine harte Erkenntnis. Heute weiß ich, dass mir die zweite Schleife gesundheitlich massiv geschadet hat und ich mir viel Ärger hätte sparen können, wenn ich bei meinen gesunden Zielen geblieben wäre. Mein Meditationslehrer war früher Frauenarzt und kennt viele Frauen. Er sagt, er habe das Gefühl, Frauen könnten ihre Gefühle gut wahrnehmen, aber seien schlecht darin, daraus auch die Autorität für Veränderungen zu ziehen. Ich glaube das auch. Manche Frauen sind jahrelang wütend, aber daraus folgt nichts.

Und dann sagen die Männer, Kinder, Kollegen auch noch: Was ist denn los mit dir? Früher warst du doch immer so nett.

So war es bei mir auch, ich galt als nett. Mit mir konnte man gut arbeiten. Und ich will auch keine stinkige Diva sein, das passt nicht zu mir. Aber das ist ein Selbstbild, über das man sehr manipulierbar bleibt. Denn wenn man an einen Punkt kommt, wo man zwei Kinder hat, dann muss man oft ein bisschen komplizierter werden. Und dann werden die Erwartungen und das eigene Selbstbild zum Problem.

Man kann auch seufzen: »It’s a tough job, but somebody’s gotta do it.« Für das Funktionieren von Familie und Gesellschaft muss irgendjemand das Kreuz tragen.

Ja, und das tun Frauen. Wenn das Kreuz auferlegt wird und das Selbstbild, dann ist es sehr schwer, sich dagegen zu wehren. Dann ist es schwer zu sagen, ich funktioniere jetzt nicht mehr in eurem Sinne. Und zwar besonders, wenn man als Kind so ein Montagsmodell war wie ich, das immer gespiegelt bekommen hat: Na, ob aus dir noch was wird? Wenn man dann Anfang zwanzig im Berufsleben ständig gespiegelt bekommt, dass es läuft, dann ist das toll. Ich habe damals gemerkt, ich habe eine extreme Geduld, Freundlichkeit und Leidensfähigkeit. Das hätte niemand von mir gedacht. Und ich wollte das natürlich behalten, nachdem ich mich einmal bewiesen hatte. Ein Album zu veröffentlichen, braucht mehr, als den meisten Menschen klar ist. Es ist sehr komplex, das ist wie eine kleine Unternehmensführung. Das hat mir immer viel Spaß gemacht, und es war befriedigend, es gut zu können. Aber ich habe dann auch gemerkt: Nur weil ich etwas gut kann, heißt das nicht, dass es mir guttut oder ich es für immer machen muss.

Mir fällt bei Ihrem Buch auf, dass die Welt da sehr schattenhaft auftaucht.

Die Welt?

Die Welt im Sinne der ganzen Krisen und Umbrüche der letzten zwanzig Jahre. Ihre Alterskohorte der Jahrgänge zwischen 1975 und 1985 wurde ja in der heilsten aller Welten erwachsen, Liberalismus und emanzipatorischer Fortschritt scheinbar allein auf weiter Flur. Dann kamen die ganzen Einschläge, die eskalierende Klimakrise und ihre multiplen Nebenstränge, zuletzt der Krieg in der Mitte Europas. Das taucht im Buch alles nicht auf.

Damit habe ich mich viel vor dem Buch beschäftigt. Ich hätte noch tausend Essays in alle Richtungen schreiben können, aber als ich das Buch anfing zu schreiben, da ging es mir um mich. Und um die Frage, wie eine Person mit klaren Werten und Überzeugungen an sich selbst solchen Raubbau betreiben kann. Aber wenn ich die Welt betrachte, dann weiß ich, dass das der Welt kein Liebesdienst ist, wenn alle unglaublich geschmeidig sind und ein wunderbares Arbeitsethos haben. Jeder weiß, dass Produktivität keine Perspektive ist. Für den einzelnen Menschen ist es nicht nachhaltig und für den Planeten noch weniger. Ich habe darüber zwanzig Jahre gesungen und war selbst zweieinhalbmal mal im Burnout, einmal mit einer Meningitis, die wahrscheinlich auch stressbedingt war und die mich drei Monate ins Bett legte.

Ihr Wir-sind-Helden-Hit Guten Tag, ich will mein Leben zurück vom Debütalbum ist noch eine klassisch-linke Anklage der Außenwelt und der kapitalistischen und konsumistischen Gesellschaft. Dann wird es aber immer innerlicher, man sieht sich dann auch als Teil des Problems in den Strukturen?

Seit 2000 praktiziere ich Buddhismus und auch, als ich damals die Songs geschrieben habe, war mir schon klar, dass man desto weniger manipulierbar ist, je mehr innere Freiheit man hat. Konsumismus entsteht aus Bedürftigkeit. Leistungsdenken entsteht durch Bedürftigkeit. Das Ganze funktioniert nur, weil wir nicht so richtig glücklich sind. Werbung hat kein Interesse daran, dass Frauen sich gut fühlen. Da muss man gründlich rangehen, wenn man sich aus dieser Manipulierbarkeit raus entwickeln will. Ich bin immer noch für Freundlichkeit, es ist gut, ein netter Mensch zu sein, aber ich bin auch dafür, sich abzugrenzen und zu den eigenen Instinkten zu stehen.

Nora Bossong hat eine Skizze der Alterskohorte derjenigen vorgelegt, die zwischen 1975 und 1985 geboren sind. Die Geschmeidigen. These ist, dass diese Teilgeneration der gebildeten Mittelschicht durch das Aufwachsen in den 90ern und eine liberalisierte Gesellschaft besser in der Lage sei, gesellschaftliche Kompromisse zu schließen als ihre Vorgänger, aber auch stärker äußeren Ansprüchen genügen wollen – und zwar vom ersten Praktikum an. Die Frage wäre also, ob dieses Gefallenwollen über das Geschlecht hinaus gilt.

Ich habe mich damals Feministin genannt, als das noch gar nicht so normal war, wie es das heute zum Glück ist. Viele junge Frauen sagten Anfang der 2000er, so was brauche man ja gar nicht mehr. Das galt als unschön, so was zu sagen und eher als etwas der Elterngeneration. Aber ich war schon damals ungebrochen überzeugt, dass ich mich als Feministin bezeichnen kann. Aber dann kam die ganze Geschmeidigkeit, und wenn ich jetzt zurückschaue, ist da ganz viel Scham, weil ich nicht zu meinen Idealen stand. Inzwischen bin ich nachsichtiger mit mir selbst, aber ich bin einfach überall sehr geschmeidig gewesen. Ich komme schwer damit klar, wenn Männer in einem bestimmten Ton mit mir reden, ich bin sehr leicht einzuschüchtern. Mir wurde dann klar, ich muss üben, nicht immer klein und niedlich und kompatibel zu sein. Ich beschäftige mich seit 2000 mit der Ideologisierung von Arbeit und Vollbeschäftigung und dem Wert von Degrowth und Nichtstun und Dada-Techniken. Aber dann habe ich irgendwann gesehen, dass ich mich fast zugrunde gerichtet habe, weil ich so gut funktioniere.

Judith Holofernes über die Dynamiken der Musikindustrie, Fans, persönliche Krisen und Träume – ein taz Talk auf der Buchmesse Frankfurt am 21.10.2022.

Aber das haben wir ja fast alle gut hinbekommen, so zu leben, dass es uns selten auffällt, wie gut wir im Sinne anderer funktionieren.

Das stimmt, Feminismus ist davon natürlich nur ein Ausschnitt.

Sie können aber offensichtlich schon auch über sich lachen?

Naja, es ist beschämend und auch ein bisschen unterhaltsam. Aber ich finde es schade, dass die meisten Frauen, die ich kenne, das erst Mitte vierzig lernen und anfangen, umzusetzen.

Wenn die Kinder aus dem Haus sind, das ist ein klassischer Moment, in dem man sich neu justieren muss als Mensch oder manchmal als Paar.

Oder schon etwas früher, wenn sich abzeichnet, dass es nicht mehr ewig so ist.

Jetzt kommt die härteste Frage: War es der große Irrtum dieser Generation und dieses Teils eines liberal-demokratischen Fortschritts, dass wir dachten, es müsse alles gehen – und zwar gleichzeitig, Kanzleramt und bestes Elternteil der Welt?

Bei dieser Frage zeigt sich auch, dass Arbeit umdefiniert werden muss. Es gehört moderner und menschenfreundlicher definiert, auch für Politikerinnen. Sonst wundert man sich weiter, warum es keine gibt. Beim Schreiben habe ich mich auch gefragt: Wollte ich einfach zu viel? Es ist niederschmetternd, wenn es nicht funktioniert. Ich rede da immer noch mit meinem Mann darüber, und wir sind auch noch nicht fertig damit. Ich denke immer noch, dass in einem freundlicheren und beweglicheren Arbeitsumfeld mehr Spielraum gewesen wäre. Ein Aspekt war aber auch mein Perfektionismus. Es hätte geholfen, wenn er milder gewesen wäre. Als ich mich das erste Mal mit Amanda Palmer traf ...

... eine New Yorker Musikerin, die auch auf Patreon veröffentlicht ...

... da hat die sich totgelacht, dass ich irgendwelche Muffins für Schul-Events backe. Man braucht eine radikale innere Freiheit, was das Bild von Familie angeht, wenn man das gleichzeitig machen will. Und das ist, glaube ich, in unserer Generation im Moment noch das Ziel von allen, beides gleichzeitig und perfekt zu machen. Niemand würde sagen, ah ja, Mutter sein, das kriege ich ganz okay hin.

Als Mutter bin ich eine 2 minus, das kann man nicht sagen?

Das tut niemand und deswegen bin ich so fasziniert von diesem ganzen Feld von Arbeit und vor allem ihrer inneren Bedeutung, also der Identitätsstiftung. Für den Feminismus ist der wichtigste Schritt, die enge Identifikation mit dem aufzulockern, was wir arbeiten. Und auch die Auseinandersetzung damit: Wie muss ich als Mutter ticken? Muss es bei mir genauso aussehen wie bei anderen? Damit hatte ich die letzten zwölf Jahre ganz viel zu tun. Alle jonglieren rum, alle haben so ihre Probleme. Aber wenn die Bedingungen sehr speziell sind, warum erlaube ich mir nicht, dass es in der Umsetzung auch sehr speziell aussehen darf? Wir haben Babysitter gehabt, aber das waren oft Freundinnen, es gab kein verlässliches Unterstützungssystem, es war immer prekär. Und dennoch haben wir uns zu keiner Zeit dazu entschieden, dass wir eine feste dritte Person brauchen.

Sie wollten Ihre Kinder nicht »professionell« organisieren, weil sich das für unsereins nicht gehörte?

Wir hätten sagen müssen, damit ich nicht draufgehe, brauchen wir eine dritte Person. Es geht einfach nicht zu zweit. Wir hätten beschließen müssen, dass unser Familienleben zumindest in den Jahren, in denen unsere Kinder so klein sind, anders aussieht als bei unseren Freunden. Aber was machen wir? Wir haben über Jahre getourt, und wir hatten die Kinder immer dabei, wir waren trotzdem auf fast allen Elternabenden, wir waren auch auf jedem beschissenen Schulfest und haben ab 12 Uhr den Stand betreut. Da heißt es dann auch mal feministisch zu sagen: Nee, ich backe jetzt keinen Kuchen, weil ich nicht kann.

Die Schlüsselszene hier für mich ist eine Szene im Tourbus. Da geht es um die Idealvorstellung unserer liberal-emanzipatorischen Kultur, dass alles geht. Wir müssen nur wollen. Sie geben ein Konzert und in der Pause wird noch peaceful gestillt, danach cool abgehangen und dann mit den Kleinen im Tourbus geschlafen.

Ja, und das geht auch. Aber nur unter wahnsinnigen Verlusten und mit vielen blauen Flecken, Angst um die Kinder, Schlafmangel und Raubbau am eigenen Körper. Man muss gerade im Musik-Business auch auf die Strukturen dahinter schauen. Ist es vielleicht ein Beruf, in dem man als Frau keine Kinder kriegen kann? Und nicht älter als 25 werden sollte? Aber auch als junge Frau kann man es am Ende nur machen, wenn man relativ robust ist und seine eigenen Interessen nicht aufgibt, sondern hartnäckig verfolgt. Ich habe bis zum Schreiben des Buches gebraucht, um zu merken, was es heißt, wenn Leute sagen, dass etwas nicht geht.

Nämlich?

Es bedeutet, dass es zwar geht, aber für sie selbst suboptimal ist. Man hätte es natürlich machen können. Ich hätte einfach sagen müssen: Ich weiß, es ist suboptimal, aber so ist es jetzt.

Interview: PETER UNFRIED

Dieser Beitrag ist im September 2022 in taz FUTURZWEI N°22 erschienen.

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