Journalismus unter Leistungsdruck: Wir laden ein, sich an uns zu reiben

Bezahlschranken behindern freie Meinungsbildung und Tracking ermöglicht die Performance-Kontrolle von Inhalten. taz-Chefin Aline Lüllmann über eine problematische Entwicklung von Journalismus online.

Berlin, 26.08.21 | Von ALINE LÜLLMANN

Historisch betrachtet war es so: Eine Redaktion war immer durch Ver­le­ge­r:in­nen – eigentlich eher Verleger – geschützt. Jedenfalls in Hinblick auf ihre journalistische Autonomie. Anzeigenkunden hatten keinen Einfluss zu haben.

Die Entwicklung der Auflagen ließen zwar Rückschlüsse auf die professionelle Qualität des gesamten (Zeitungs-)Produkte zu, sagten aber wenig über die Präferenzen für Au­to­r:in­nen – Redaktionen konnten auch für Le­se­r:in­nen und An­zei­gen­kun­d:in­nen unliebsame Texte veröffentlichen. Das Produkt wurde als ganzes gekauft, eine Art Best-of des Tages. Feedback, also Rückmeldung, gab es von den Kolleg:innen, über Leser:innenbriefe. Historisch.

Orientierung am Publikum

Die Grundlage für die Möglichkeit, Zustimmung oder Ablehnung einzelner Artikel direkt durch Geld auszudrücken, wurde durch die Aufsplittung der Zeitung in einzelne Artikel und die Präsentation dieser im Netz gelegt.

Die Artikel, Au­to­r:in­nen mit ihren Reportagen, Berichten und Meinungsstücken waren aus dem schützenden Ganzen, wie es eine Zeitung nun einmal ist, gelöst. Die Popularität konnte direkt gemessen werden, durch Besuche und später mit Einführung von Paid Content sogar durch die Anzahl der Zahlungen für einen Artikel oder gar die Umwandlung zu einem Abonnement.

Die Verlage, das wäre früher in Zeiten der reinen Zeitungslandschaft unmöglich gewesen, messen den „Traffic“, also den „Verkehr“ auf ihren Seiten und können ermitteln, welche Artikel besonders starke Aufmerksamkeit erregen, am meisten Geld einbringen oder Le­se­r:in­nen von einem Abonnement überzeugen können. Aber es wird erstaunlich wenig öffentlich darüber gesprochen, ob und wie diese Erkenntnisse die Redaktionen beeinflussen, journalistisch, das heißt inhaltlich.

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Journalismus im Internet kann und muss heute mit dem unmittelbaren Wissen darüber umgehen, welche Inhalte wie häufig konsumiert werden. Er fordert eine Orientierung am Publikum ein.

Einfluss auf die Themenauswahl

Wir als taz sind davon überzeugt, dass die Vorlieben der Le­se­r:in­nen zwar interessant sind und diese Aufschlüsse etwa über die Gelungenheit von Präsentationsformen geben, aber sie sollen keinen Einfluss auf die Themenauswahl der Redaktion haben. Auch weil wir wissen, dass ein Diskurs wichtig ist und die Auswahl der Artikel subjektiven Faktoren zugrunde liegt.

R. Kelly Garrett, Kommunikationswissenschaftler an der State University of Ohio, USA, untersuchte den Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit, einen Artikel auszuwählen und der Ähnlichkeit der Position im Artikel mit der eigenen politischen Haltung. Anschließend untersuchte er noch die Verweildauer der Le­se­r:in­nen bei, einerseits, Inhalten, die die eigene Position stärken, und, andererseits, Inhalten, die der eigenen Position widersprechen.

Die Ergebnisse seiner Studie legen nahe, dass die Wahrscheinlichkeit höher ist, Texte auszuwählen, die voraussichtlich die eigene Meinung zu einem Thema stützen. Je geringer der Anteil an Informationen, die der eigenen Meinung widersprechen, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Artikel ausgewählt wird.

Im zweiten Teil der Untersuchung zeigt Garrett, dass die Lesezeit eines Textes mit der Dichte der in ihm enthaltenen Informationen steigt. Bei Artikeln, die die eigene politische Haltung widerspiegeln, ist, bei niedriger Informationsdichte, die Lesezeit höher als bei Artikeln, die der eigenen Haltung widersprechen.

Überraschend ist jedoch, dass bei einer hohen Informationsdichte auch solche Artikel deutlich länger gelesen werden, die nicht der eigenen Meinung entsprechen.

Entscheidung zur Honorierung

Es ist also wahrscheinlicher, dass Le­se­r:in­nen einen Artikel wählen, der ihrer oder seiner Meinung entspricht. Wenn ich aber einen Artikel mit vielen der eigenen Meinung gegenläufigen Informationen lese, ist die Verweildauer bei diesem Artikel höher. Die längere Lesezeit bedeutet natürlich nicht zwingend, dass jemand sich von Gegenargumenten überzeugen lässt, doch zumindest setzt dieser oder diese sich mit anderen Positionen eher auseinander.

In der Studie von Garrett wurden Artikel zur Auswahl gestellt, die frei zugänglich waren. Der Gedanke liegt nahe, dass sogenannter Paid Content als weitere Hürde der Zugänglichkeit diesen Effekt der Auswahl verstärkt. Deswegen ist es interessant zu betrachten, welche Faktoren eine Rolle bei der Entscheidung zur Honorierung spielen.

Die Ergebnisse einer Studie von Nick Geidner und Denae D'Arcy von der University of Tennessee, USA, zeigen, dass Menschen, die für Inhalte im Netz bezahlen, sich tendenziell auf solche Inhalte beschränken, die ihrem Weltbild entsprechen. Die Haupterkenntnis ist simpel und folgenreich zugleich: Die Wahrscheinlichkeit, für einen Artikel zu zahlen, steigt mit der Ähnlichkeit zur eigenen Meinung.

Geidner und D'Arcy kommen damit zu dem Schluss, dass Paid Content die Gefahr von Informationsblasen und von sozialer Polarisierung erhöhe.

Zahlschranken behindern faktisch die Möglichkeit zur ‚Gegeninformation‘, zur Irritation

Verantwortungsbewusste Le­se­r:in­nen­schaft

Bringen wir beide Studien zusammen, verschärft sich das Bild. Personen wählen und zahlen eher für Artikel, die ihrer Meinung entsprechen – in der mehr denn je von Paywalls geprägten Medienlandschaft wird es seltener, sich mit Gegenargumenten auseinanderzusetzen.

Die Verfügbarkeit von Journalismus online ist ein großer Gewinn. Le­se­r:in­nen können frei wählen, sich an verschiedenen Stellen informieren, sich ihre Meinung bilden und über ihre Lektüren sprechen. Eine Entwicklung, die wir begrüßen, die aber leider durch die Einführung von Paywalls beschnitten wird – weil die Zahlschranken faktisch die Möglichkeit zur ‚Gegeninformation‘, zur Irritation durch andere inhaltliche Zuschnitte behindern.

Die Entscheidung der taz, ein freiwilliges Bezahlmodell einzuführen, hatte viele Gründe. Einer davon ist, dass wir eine mündige und verantwortungsbewusste Le­se­r:in­nen­schaft haben und es uns schlicht erlauben können, nach Geld zu fragen anstatt es zwingend zu verlangen. Für uns ist der solidarische Zugang kein Übergangsmodell, um die Reichweite zu erhöhen und dann die Le­se­r:in­nen in ein Paid-Content-Modell zu tricksen.

Demokratiefördernder Journalismus

Aber wir haben uns auch bewusst dafür entschieden, unsere Inhalte allen zugänglich zu machen. Weil wir von der Qualität überzeugt sind, an den demokratiefördernden Wert von unabhängigem Journalismus glauben – und weil wir es für richtig halten, verschiedenste Themen Sichtbarkeit zu verschaffen.

Auf taz.de sind alle Artikel (mit all ihren Haltungen) wie klassisch in der Papierzeitung geschützt. Und zwar das ganze Spektrum: von den meistgelesenen Aufmachern bis zu den Nischenthemen. Als taz-Geschäftsführung möchten wir, dass das Spektrum der Artikel so weit bleibt, wie es ist.

Die Zugriffszahlen sollten die Redaktion nicht beeinflussen, denn auch weniger populäre Themen und unbequeme Meinungen müssen weiter in der taz Platz haben und Aufmerksamkeit bekommen.

Aline Lüllmann, seit 2011 bei der taz, entwickelte das Modell des freiwilligen Bezahlens taz zahl ich. Seit 2020 führt sie zusammen mit Andreas Marggraf und Andreas Bull die Geschäft der taz.