■ Jospin möchte Präsident Frankreichs werden: Punktesammler
Wenn ich einmal groß bin, will ich Präsident werden“ – sagen viele kleine Franzosen. Das höchste Amt im Staat, sieben oder – besser noch! – vierzehn Jahre im Elysée-Palast schalten und walten, das scheint ihnen attraktiver als eine Karriere bei der Feuerwehr oder im Zirkus.
Wer dem Traum bis in die Pubertät treu bleibt, büffelt, was das Zeug hält, um von einer der staatlichen Eliteschulen aufgenommen zu werden und in die Kreise zu kommen, die den Weg in die große Politik öffnen. Später tritt er einer politischen Partei bei. Wenn die alten Parteien schon alle Posten besetzt und alle Pfründe verteilt haben, gründet er eine eigene; auch das hat Tradition. Vor knapp zwei Jahrzehnten tat das der Neogaullist Jacques Chirac – in den Jahren danach folgten der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen, mehrere Umweltpolitiker und – vor wenigen Tagen erst – der nationalistische Populist Philippe de Villiers seinem Beispiel.
Solcherart zustande gekommene Parteien verfügen, wenn alles gutgeht, über einen „natürlichen Kandidaten“ für das Präsidentenamt. Die Neogaullisten haben derzeit das Pech, daß sie in ihren eigenen Reihen mindestens zwei Männer haben, die sich dafür halten: den Pariser Bürgermeister Jacques Chirac und den Premierminister Edouard Balladur. Die Sozialistische Partei hingegen hat ihren „natürlichen Kandidaten“ bereits verbraucht: Er heißt François Mitterrand und beendet seine zweite Amtszeit im Elysée- Palast. Nach ihm – beziehungsweise unter ihm – hat die Partei keinen einzigen „natürlichen Kandidaten“ aufgebaut und ist dazu noch zu einer 14-Prozent-Splittergruppe abgesackt.
Als Notnagel sollte der scheidende Präsident der Brüsseler EU-Kommission dienen, eine Randfigur der Partei zwar, aber immerhin ein sehr erfolgreicher Politiker. Solange sie um ihn warben, begruben die Sozialisten ihre internen Querelen. Seit Jacques Delors am 11. Dezember abwinkte, sind sie in heller Aufruhr. Reihenweise erinnern sich ihre Spitzenpolitiker seither in versteckter oder offener Form ihres frühen Berufswunsches: Ex-Premierminister Laurent Fabius, Ex-Premierminister und Ex-Parteichef Michel Rocard, Parteichef Henry Emmanuelli ... sie alle ließen sich als „mögliche Kandidaten“ handeln.
Nur sind die sozialistischen Spitzenmänner momentan alle verhindert: Fabius hat ein Verfahren wegen des Bluterskandals am Hals; Rocard gilt als der politisch Verantwortliche für die Wahlniederlagen der Partei; Emmanuelli hat ein Verfahren wegen illegaler Parteienfinanzierung. Wer übrigbleibt, hat in den letzten Monaten und Jahren eher eine untergeordnete Rolle gespielt, sich nicht an der Macht verschlissen oder korrumpieren lassen. Der einstige Erziehungsminister Lionel Jospin, der gerade seine Bereitschaft zur Kandidatur erklärt hat, ist einer dieser Politiker.
Eine reelle Chance, in den Elysée-Palast gewählt zu werden, hat Jospin nicht. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen wäre es schon eine Leistung, wenn es ein sozialistischer Kandidat bis zur Stichwahl schaffte. Damit würde er den Franzosen beweisen, daß es die Sozialistische Partei auch noch nach Mitterrand geben wird. Und die Sozialisten wären in der Lage, einen neuen „natürlichen Kandidaten“ aufzubauen.
Präsident könnte Jospin später immer noch werden. Denn mit seinen 57 Jahren ist er noch jung für das Amt. Er könnte jetzt Punkte sammeln und in sieben Jahren wieder antreten. Auch deswegen macht sein Angebot zu kandidieren vielen Sozialisten, die gegenwärtig „verhindert“ sind, angst. Dorothea Hahn
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