Josef Winkler über Zeitscheife : Die erste Weihnachtskolumne des Jahres
Der letzte Drücker. Mein guter Freund, ein Kind der Not, haucht träger Masse Leben ein. Und dies zuverlässig
Vorbemerkung: Es folgt die erste Kolumne der Saison, die – wiewohl am Rande – den vorweihnachtlichen Konsumterror bejammert; ich war dieses Jahr Erster, darauf lege ich Wert. Viele werden folgen, but you read it here first: Weihnachten ist irgendwie echt voll so fragwürdig.
Es ist Anfang September, und ich möchte Sonnenmilch kaufen für den Italienurlaub und muss mich an Spekulatiusregalen vorbeiarbeiten. Als ich vernachlässigenswert kurze Zeit später aus dem Urlaub zurückkomme, lagern Apfel, Nuss, Mandelkern und Jahresendflügelpuppenschokoladenhohlkörper neben dem Gebäck. Bald sprühen Ladeneigentümer mit so weißem Chemiematsch Schablonenglocken an ihre Schaufenster und schrauben glühende Hirsche aufs Dach. Und ich kapiere nichts. Jetzt werden immer häufiger von den unmöglichsten Leuten Weihnachtslieder abgesungen, und erste Kolumnisten bejammern den vorweihnachtlichen Konsumterror. Keine Reaktion.
Es ist jedes Jahr dasselbe: Drei Monate vor dem Fest beginnt die Um-, also die Warenwelt, Signale zu senden. Verhaltensauslösende Schlüsselreize zu setzen. Es weihnachtet, sagt sie, zieh los, jetzt wäre die Zeit. Tu was, bevor es wieder so ein Gemache wird wie letztes Jahr. Der Spekulatius steht da als gut gemeinte Mahnung: Es wird passieren. Es steht bevor. Jetzt liegt es in deiner Hand, die Katastrophe zu vermeiden.
Und was macht man? Man schimpft auf die Warenwelt, dass der vorweihnachtliche Konsumterror jedes Jahr früher losgeht. Und 36 Stunden vor dem Impact, nachdem man sich des Umstandes vergewissert hat, dass auch diesmal wieder alle Zettel, auf denen man sich im Laufe des Jahres vielleicht Geschenkideen notiert haben könnte, verlegt sind, geht das Gemache los. Panik. Orientierungsloses Hasten durch Fußgängerzonen. Hektische Flecken. Mit heißer Nadel gestrickte Bastelprojekte (Unfallherd!). Mehr Panik etc.
Es ist nicht gut, wenn man die Signale der Umwelt nicht deuten kann. Wenn ich ein Star wäre, würde ich wahrscheinlich Mitte Dezember immer noch auf dem Arsch auf irgendeiner Wiese hocken und Däumchen drehen, bis ich vom ersten Schnee überrascht werde, feststellen, dass alle anderen längst in Italien sind und letztlich über den Alpen erfrieren. (Ich meine selbstverständlich: Wenn ich ein Vogel Star wäre. Meine Güte, wenn ich ein STAR wäre, würde ich schön die ButlerInnen die Geschenke besorgen lassen, weil ich mich auf meinen Auftritt bei „Menschen 04“ vorbereiten muss. Und bei „Stars in der Manege“ würde ich gern die Bärendressur machen, die sind so süß.)
Ja, in der Natur, da weht noch ein anderer Wind. In der Warenwelt lassen sie einen nicht erfrieren, zumindest nicht, solange man noch einen Funken Kaufkraft in sich hat. Trotzdem wäre ich verloren. Wäre da nicht der letzte Drücker.
Der letzte Drücker, dies Kind der Not, hat sich über die Jahre als mein wichtigster, ach: mein einziger Verbündeter gegen den inneren Schweinehund erwiesen. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass ich vollständig handlungsunfähig wäre ohne den letzten Drücker, so sehr habe ich mich an ihn und sein zuverlässiges Eingreifen gewöhnt. Eine antriebslos sich unter den Anforderungen des Alltags wegduckende Masse bin ich ohne den letzten Drücker. Allein er ist es, der dem gallertartigen Gewälze Impulse zu geben und zielgerichtetes Handeln zu induzieren vermag. Lebe! Leeebe! Und die Kreatur erhebt sich und schleppt sich in die Buchhandlung, reibt sich das Kinn und brummt: „Ein Hörbuch? Wäre das was? Das haben die doch alle jetzt. Ein Hörbuch. Gut.“ Mission abgeschlossen.
Disclaimer: Ich distanziere mich von der Aussage, Weihnachten sei fragwürdig. Ich mag Weihnachten und kann recht gut damit umgehen. Außerdem gibt es keine Schokoladenengel, und der Vogelzug hat nichts mit Schlüsselreizen zu tun; ich verfälschte diese Fakten wider besseres Wissen und zugunsten dieses Textes, der Herrgott noch mal fertig werden musste.
Wollen Sie da jetzt eine Staatsaffäre draus machen?
Fragen zu Weihnachten?kolumne@taz.deMORGEN: Kirsten Fuchs über KLEIDER