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■ Jetzt also „Beef Crisis“. Der britische Premier spaziert durch einen Zaubergarten immer absurderer SkandaleJohn Major im Wunderland

In den unzähligen britischen Parlamentsdebatten der letzten Woche über Rindfleisch produzierte ausgerechnet Sir Anthony Grant einen der wenigen lichten Momente. Der langjährige Abgeordnete für South West Cambridgeshire, ein stämmiger, weißhaariger und schnauzbärtiger Vertreter der alten Tory-Landelite, wunderte sich über die „hypochondrische Hysterie“ seiner Landsleute. Sich mit dem Rinderwahnsinn zu infizieren, sagte er, sei ja genauso unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Die Regierung, so die Folgerung, solle doch endlich diese unwiderlegbare statistische Tatsache der Öffentlichkeit vorlegen.

Ohne es zu merken, legte Sir Anthony damit den Finger auf die Wunde am Herzen der politischen Krise, die im Laufe der Rinderwahnsinn-Debatte in Großbritannien offenkundig geworden ist. Es ist nämlich die konservative Regierung, die seit anderthalb Jahren mit einem Riesengedöns die Briten zum Lotto treibt. Im Herbst 1994 prangten gigantische Lotto- Werbeplakate, deren Zeigefingermotiv an die Mobilmachungsaufrufe im Ersten Weltkrieg erinnerte, mit dem Spruch „It Could Be You“ an jeder Straßenecke, und die erste Ziehung war ein nationales Ereignis wie sonst nur die Geburt eines Thronfolgers. Seither hält das Lottofieber ungebremst an. Die staatlich denunzierte Angst vor dem Rinderwahnsinn basiert auf genau derselben Wahrscheinlichkeitsrechnung wie die staatlich geförderte Hoffnung auf Lottogewinn: „It Could Be You.“

Das Spiel mit dem Risiko ist unter den vergangenen 16 Jahren konservativer Herrschaft zu einem zentralen Element britischer Regierungskultur geworden, und jetzt wendet es sich gegen die Regierenden. Denn sie zeigen sich unfähig, mit Unsicherheit umzugehen. Bei jeder Krise, die auf das Auftreten eines für wenig wahrscheinlich gehaltenen Risikos folgt, steht die Major-Regierung nackt, hilflos, zornig und verloren da. Majors Großbritannien ähnelt dem Wunderland des Schriftstellers Lewis Carroll: Wie das kleine Mädchen Alice, das durch einen Spiegel ins Wunderland gerät und da über eine verrückte Figur nach der anderen stolpert, spaziert John Major unter den entgeisterten Augen der Bürger durch einen Zaubergarten immer monströserer und absurderer Skandale.

Die „Beef Crisis“, die die britischen Ernährungsgewohnheiten und die britische Landwirtschaft zu revolutionieren droht, folgt nur einen Monat auf die Havarie des Öltankers „Sea Empress“ vor der Küste von Wales, die eines der wichtigsten Naturschutzgebiete des Landes halb zerstört hat. Die Ölpest wiederum erfolgte zeitgleich mit der Veröffentlichung des Untersuchungsberichts von Richter Scott über illegale britische Waffenexporte in den Irak, der die Inkompetenz und Unmoral in der Staatsführung der späten 80er Jahre offenbarte.

Der Mechanismus ist immer der selbe: Etwas passiert, und die Regierung Major ist überfordert. Statt zu handeln, ist sie bemüht, Verantwortung von sich zu weisen. Sie agiert nicht wie eine nationale Regierung, sondern sorgt sich um das eigene Image. Wenn es dann doch darum geht, etwas zu tun, reproduziert sie instinktiv das Schema der alten englischen Klassengesellschaft, indem sie sich um die Interessen „ihrer“ Seite sorgt, also in den Fällen Rindfleisch und Öl um die der Fleischproduzenten und Ölfirmen und nicht um die der Verbraucher und Naturschützer. Aber spätestens dann, wenn bekannt wird, welche Versäumnisse und Fehlentscheidungen die jeweilige Katastrophe möglich machten, fällt diese Strategie in sich zusammen. Die Regierung wird defensiv.

So ist Majors derzeitige Hauptsorge in bezug auf den Rinderwahnsinn nicht die nach wie vor ungeklärte Frage, ob und wie die Seuche auf Menschen übertragen werden kann und wie das zu verhindern wäre, sondern der Verfall des Vertrauens in die Rindfleischindustrie. Agrarminister Hoggs jüngste Maßnahme, alle über 30 Monate alten Rinder aus dem Verkehr zu ziehen, wurde nicht aus seuchenhygienischen Gründen getroffen, sondern zur „Wiederherstellung öffentlichen Vertrauens“. Zugleich präsentierte die Kantine des Londoner Unterhauses als ihren „Gesundheitsessen-Vorschlag“ ein Rindfleischgericht.

Dieselbe Taktik wandten Majors Minister bei der Veröffentlichung des Scott-Berichts über Waffenlieferungen an den Irak an, der sich vor allem mit der Frage befaßte, ob die Regierung heimlich die Waffenexportbestimmungen verändert und das Parlament darüber belogen habe. Daß der Bericht Mitglieder der Regierung scharf kritisierte, ärgerte die Regierung, aber noch mehr ärgerte sie der Umstand, daß die Opposition diese Kritik aufgriff. Ein Minister flüchtete sich in die Genugtuung, laut Bericht habe er das Parlament nicht absichtlich belogen, sondern nur aus Versehen – und lehnte seinen Rücktritt ab.

Ähnlicher Unsinn folgte auf das Unglück des Öltankers „Sea Empress“ vor der Küste von Wales: Hochrangige Staatsbeamte weigerten sich trotz regelmäßiger Nachfrage standhaft, das Wort „Umweltkatastrophe“ in den Mund zu nehmen, und flogen den jungen Schiffahrtsminister Viscount Goschen ein, der in völliger Ahnungslosigkeit sein „Vertrauen“ in die überforderten und schlecht ausgerüsteten Rettungsmannschaften ausdrückte.

Dabei sind alle drei Krisen hausgemacht. Es war die Major-Regierung, die mit der unvorbereiteten Andeutung eines Zusammenhangs zwischen Rinderwahnsinn und der Creutzfeld-Jacob-Krankheit beim Menschen den Fleischmarkt zusammenbrechen ließ. Es war die Major-Regierung, die 1992 Richter Scott mit der Untersuchung der Irak-Geschäfte beauftragte. Und es war die Major-Regierung, die 1995 entschied, keinen hochseetüchtigen Schlepper auch nur in der Nähe des größten britischen Ölhafens in Milford Haven zu stationieren. Der frühere Finanzminister Lamont fand nach seinem Rücktritt 1993 für diesen Politikstil die Formulierung, die Regierung sei „im Amt, aber nicht an der Macht“. Doch trifft das nur halb. Gerade diesen Eindruck will die britische Regierung nämlich erwecken, so als könne sie nichts für Rinderwahnsinn, Ölkatastrophen, Waffenexporte und Korruptionsskandale. Sie redet unablässig auf die Bürger ein: An Versäumnissen des Staates ist die Opposition schuld, Rindfleischessen ist gesund, ein Sechser im Lotto ist für jeden drin, und die Konservativen gewinnen die nächste Wahl. Alice, das Wunderlandmädchen aus dem 19. Jahrhundert, würde sich im Grabe umdrehen. Dominic Johnson, Cambridge

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