■ Jelzin will keine Präsidentschaftswahlen: Prinzip Wortbruch
Jetzt aber genug, Boris Nikolaijewitsch! Erst löst du das Parlament auf, schickst das Verfassungsgericht in den Ruhestand. Schließt Zeitungen, verhängst Zensur über das Land und verbietest allerhand Parteien. Drückst ein Auge zu, wenn deine allzu aktiven Wasserträger schon im Vorfeld der Parlamentswahlen die Ausgangsbedingungen zu deinen (und ihren) Gunsten manipulieren. Dann schickst du deinen Pressesprecher ins Rennen. Wie immer, wenn du einen Wortbruch vorbereitest. Bleibt der Protest aber aus, machst du die Worte deines Sprechers zu den eigenen. Du willst dich also Präsidentenwahlen nicht stellen, obwohl du es für den kommenden Juni versprochen hattest. Die Welt wußte schon immer, was sie von dir zu halten hatte. Du bist und bleibst ein Autokrat, der die Stimme des Wählers fürchtet. Du hängst an der Macht wie alle deine Vorgänger. Nun willst du tatsächlich bis zum Ende deiner Amtsperiode herrschen. Das verstehen wir unter Demokratie nicht, oder?
Jelzin hat gute Gründe, die Präsidentschaftswahlen auszusetzen. Gewinnt der demokratische Block die anstehenden Parlamentswahlen, wird das nächste Jahr einschneidende Reform-Maßnahmen sehen. Populistische Geschenke sind nicht zu erwarten. Das Bankrottgesetz wird eine ganze Reihe Betriebe von der Bildfläche nehmen. Zum erstenmal wird in Rußland Arbeitslosigkeit herrschen. Und ein Sündenbock läßt sich nicht mehr finden. Verantwortlich zeichnen allein Regierung und Präsident. Dessen Wiederwahl würde sicherlich nicht so überzeugend ausfallen wie bisherige Abstimmungen. Fürchtet sich Jelzin davor? Ginge es ihm um einen Machtverbleib, hätte er nur den Instruktionen seiner Gegner Folge leisten und sich im Dezember den Wählern stellen müssen. An seinem Erfolg braucht er heute noch nicht zu zweifeln. Bis 99 dürfte er dann sogar bleiben. Ganz legal.
Offenkundig hat der Präsident kein Interesse daran. Mit dem Ende seiner ersten Amtszeit 1996 legt er die Präsidentschaft nieder. Es sei denn, das neue Parlament will es anders. Jelzin hat für Rußland und die Welt mehr geleistet als jeder andere Politiker. Noch einmal gilt es, die Landsleute für eine neue Zukunft zu mobilisieren. Er muß den Reformprozeß durchdrücken und Institutionen des neuen Staates schaffen, die einen Rückfall in die Barbarei ausklammern. Einiges auf diesem Weg hat er hinter sich. Aber es reicht nicht, und seine Bewegungsfreiheit ist enger geworden. Kompensieren kann er das nur durch mehr Entschlossenheit. Das hat er sich vorgenommen. Sein jetziger Entschluß signalisiert: Zumindest hat er begriffen, Kräfte und Können sind begrenzt. Er ist ein Mann des Übergangs. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Die Arbeit unter „normalen“ Bedingungen sollen andere übernehmen. Jüngere, die in seinem Umkreis schon ungeduldig warten. Klaus-Helge Donath
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