: Jeder Mensch zählt
Der Biafrakrieg vor vierzig Jahren war die Geburtsstunde des humanitären Interventionismus – einer Doktrin, die seither die Weltpolitik revolutioniert hat
VON DOMINIC JOHNSON
Wer erinnert sich noch an Biafra? Vierzig Jahre ist es her, dass ein Krieg fern in Afrika erstmals die Weltöffentlichkeit aufrüttelte. Als Nigerias Zentralregierung 1967–70 sezessionistische Militärs im Südosten des eigenen Landes niederkämpfte und das Aushungern der Zivilbevölkerung als Kriegsmethode einsetzte, gingen Bilder von Hungerbäuchen um die Welt, und Empörte machten mobil für die Biafrakinder. Es entstand daraus eine der mächtigsten zivilgesellschaftlichen Bewegungen der Zeitgeschichte, deren Einfluss auf die Weltpolitik heute nicht mehr wegzudenken ist: der internationale Humanitarismus, der ohne Rücksicht auf politische Bedenken Hilfe für Notleidende fordert und organisiert und der zuweilen auch ohne Rücksicht auf legale Schranken Eingreifen zugunsten von Kriegsopfern verlangt und durchsetzt.
Aus dem Biafrakrieg entstand als zentrale Verkörperung dieses Gedankens die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), deren Name schon den Anspruch signalisiert: Wir helfen überall, wir lassen uns nicht stoppen. Es war im revolutionären Sommer 1968, als die Schreckensbilder aus Biafra vor allem in Paris auf fruchtbaren Boden fielen. Während das Internationale Rote Kreuz das Verbot seiner Hilfe im Kriegsgebiet durch Nigerias Regierung zunächst hinnahm, widersetzten sich die später als „French Doctors“ bekannt gewordenen Helfer um den späteren MSF-Gründer und heutigen französischen Außenminister Bernard Kouchner. Irgendwann folgten ihnen alle anderen, selbst das Rote Kreuz.
Was in der Biafrahilfe als Humanitarismus entstand, setzte einen großen fortschrittlichen Gedanken unauslöschlich auf die Tagesordnung der Weltpolitik: Beistand für unmittelbar bedrohte Menschen darf nicht einem Veto der Bedrohenden unterliegen. Eine Regierung, die ihre Bürger umbringt, darf andere nicht daran hindern, etwas dagegen zu tun. Der neue praktische Gedanke der Biafrahelfer war, dass von Nigeria erlassene Verbote nicht hingenommen werden dürfen. Die Hilfsflüge, meist aus der damals noch spanischen Hauptinsel von Äquatorialguinea, unmittelbar vor Nigerias Küste, erfolgten gegen Nigerias Willen. Das war ein Bruch der Genfer Konvention, aber es rettete Menschenleben.
Für damalige Verhältnisse war es eine Revolution. Die nicht weniger grausame Kriegführung Frankreichs in Algerien lag damals gerade ein Jahrzehnt zurück; die hunderttausende Todesopfer von damals interessierten die Welt nicht. Als der Biafrakrieg tobte, steckten die USA tief im Vietnamkrieg, und trotz aller internationalen Solidarität mit den Befreiungsbewegungen war Hilfe für bedrohte Zivilbevölkerungen kein Thema der öffentlichen Debatte.
Biafra war das Gegenteil: Kaum jemand interessierte sich für die separatistische Militärjunta von General Chukwuemeka Ojukwu – es war das Leid der Menschen, das die Welt erregte. Das war ein Gedanke mit Sprengkraft, der seither immer wieder die Politik durcheinandergebracht hat und immer wieder neu durchgesetzt werden musste. Ende der Siebzigerjahre war Hilfe für Vietnams Boatpeople keineswegs selbstverständlich – in Deutschland änderte das erst Rupert Neudeck mit seinem Hilfswerk Cap Anamur, das mit zehnjähriger Verspätung den Mut des Franzosen Kouchner auch auf Deutschland übertrug. Die Hungersnot in Äthiopien 1984/85, deren katastrophales Ausmaß eine damals noch unerhörte weltweite Promikampagne namens Live Aid ins Leben rief, verhalf dem humanitären Gedanken schließlich zu breiterem Durchbruch. Erstmals mobilisierten Fernsehbilder die Weltöffentlichkeit. Untätige Politiker standen als herzlos da gegenüber der schlichten Forderung „Feed The World“: Man muss die Verhungernden retten, sofort, egal was Äthiopiens Regierung sagt.
Aber der Humanitarismus siegte auch dann nicht und auch nicht nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989/90, in der Zeit der längst vergessenen „Neuen Weltordnung“ des damaligen US-Präsidenten George Bush, als das „Ende der Geschichte“ in greifbare Nähe gerückt zu sein schien. Niemand stoppte 1994 den Völkermord in Ruanda, es gab in Europa keinen Konsens zum Schutz der Menschen in den Balkankriegen der Neunzigerjahre, und bis heute greift niemand effektiv in das andauernde Schlachten im Kongo ein und gibt es keine Intervention in Darfur.
Auch die Äthiopienhilfe 1985 half nur eine Saison lang, denn sie konnte mangels politischen Gestaltungsvermögens nichts an den Faktoren ändern, die zum Massenhunger geführt hatten. Und auch die Biafrahilfe verhinderte den Untergang des Separatistenstaates Biafra nicht.
Im Laufe der Zeit trat vielmehr der ursprüngliche Geburtsfehler des Humanitarismus immer stärker hervor: Er setzt sich nur dann wirklich durch, wenn er als Gehilfe eines ganz traditionellen geopolitischen Interesses auftreten kann. Allein auf sich und auf seine Moral gestellt, verhallt sein Anspruch ungehört.
Die Biafrahilfe mit ihren todesmutigen Piloten, die unter Beschuss riskante Hilfsflüge unternahmen, hätte unter den damaligen Umständen nie umgesetzt werden können, wäre sie nicht hinter den Kulissen von der französischen Afrikapolitik gefördert worden, die den Zerfall des mächtigen anglofonen Nigeria als Chance begrüßte, den französischen Einfluss auf dem Kontinent zu erweitern. Das war ein Zwiespalt, der die Doktrin des humanitären Interventionismus bis heute überschattet. Die Art, wie Frankreich 1994 gegen Ende des ruandischen Genozids unter dem Banner des Humanitarismus Soldaten nach Ruanda entsandte, um in Wirklichkeit die Täter des Völkermordes zu schützen und zu evakuieren, war der finstere Tiefpunkt der Instrumentalisierung humanitärer Werte durch skrupellose Machtpolitiker.
Seither hat der Humanitarismus seine Farbe gewechselt und ist über den Umweg des weltweiten Eingreifdenkens eines Tony Blair zu einer Facette neokonservativer Außenpolitik geworden, die mit dem intellektuellen Scheitern des Neokonservatismus in den USA endgültig unterzugehen droht. In Reaktion auf die konservative Vereinnahmung des Hilfs- und Eingreifgedankens haben viele Linke Realpolitik, also das Hinnehmen von Diktatoren im Namen des gegenseitigen Respekts, an die Stelle der Verteidigung universeller Werte gesetzt. Hinter jedem Interventionsanspruch wittern sie imperiale Interessen, als bedürften diese der Legitimation durch Moral.
Dass der humanitäre Interventionismus inzwischen dank der von Kofi Annan in der UNO verankerten Doktrin der Schutzverantwortung für bedrohte Menschen (Responsibility to Protect) Eingang in das Völkerrecht gefunden hat, ändert daran nichts. Vielmehr ist aus dem einst subversiven Eingreifgedanken endgültig ein Instrument staatlicher Politik geworden, dessen Einsatz von Veto-Egoismen im UN-Sicherheitsrat abhängt. Die Debatten über die Völkerrechtmäßigkeit des Kosovokrieges 1999 zeugen davon ebenso wie die Diskussionen über ein internationales Eingreifen in Darfur. In beiden Fällen wird den Interventionisten gerade vonseiten der Linken unterstellt, sie agierten nur als Erfüllungsgehilfen.
Das Unvermögen der internationalen Darfurkampagnen, daran zu rütteln, offenbart, dass der humanitäre Interventionismus in eine Sackgasse geraten ist. Die Darfurkampagnen haben Darfur zu dem gemacht, was Biafra für die Humanitären vor vierzig Jahren war: ein Territorium ohne Geschichte, aber mit einem moralischen Absolutheitsanspruch, dessen Unterstützung eine Gewissenspflicht darstellt. Jedem, der Sudan kennt, fällt es leicht, sich von den Darfurinterventionisten wegen deren Unkenntnis der lokalen Verhältnisse mit Grausen abzuwenden, so wie zurzeit des Biafrakrieges Beobachter, die von Westafrika schon einmal gehört hatten, einen Zerfall Nigerias ablehnten, weil sie unendliche ethnische Territorialkriege befürchteten.
Die tragikomische Steigerung europäischer humanitärer Ahnungslosigkeit bezüglich Afrika war diesen Herbst die perfide Kampagne des französischen Hilfswerks Arche de Zoé, das Kinder aus Tschad entführte, um sie nach Frankreich zu bringen und dort als Darfurwaisen dem Adoptionsgeschäft zur Verfügung zu stellen. Es war wie eine Wiederholung der Biafrageschichte, diesmal als Farce. Das alles hatte es auch schon in der Schlussphase des Biafrakrieges gegeben, als gut meinende Hilfswerke Biafrawaisen in frankofone alliierte Staaten wie Gabun und Elfenbeinküste ausflogen. Nach Kriegsende wurden die Kinder von der UNO repatriiert – ein sinnloses Hin und Her, das Millionen kostete und Leben zerstörte.
Doch solche Auswüchse dürfen nicht vergessen machen, dass der Humanitarismus für die Gestaltung einer besseren Welt unverzichtbar ist. Dass es besser ist, Menschen zu helfen, als sie verrecken zu lassen, bestreitet heute niemand mehr. Es ist erstaunlich, wie lange es gedauert hat, bis dieser grundlegende Impuls der menschlichen Solidarität auf internationaler Ebene politisch anerkannt wurde. Man denkt mit Schrecken an die Welt vor Biafra zurück, als der einzelne Mensch in einem Kriegsgebiet nichts zählte, weil das in der Politik nicht vorgesehen war.
DOMINIC JOHNSON, Jahrgang 1966, ist Afrikaredakteur der taz