Jan Feddersen über PARALLELWELTEN : Juten Morgen, Sausocke!
Mein Stadtteil ist proll. Na und? Dafür herrschen klare Verhältnisse: „Westerwelle, dit jeht jar nich!“
Was könnte man gegen den Berliner Bezirk Neukölln haben? Außer, dass er einerseits genauso türkisch grundiert ist wie Kreuzberg, andererseits aber ohne diesen Appeal von fröhlichem Multikultimix auskommen muss? Seit ich dort wohne, heißt es: „Super, da wohnst du? Klasse. Neukölln soll ja echt kommen.“ Das ist neun Jahre her – aber so sicher, wie die in meinem Viertel besonders dampfende Hundekacke auf den Bürgersteigen zertreten wird, so gewiss kommt Neukölln nicht.
Ich lebe in einem Viertel mit sieben Parallelgesellschaften. Das kann man aushalten. Meine Freundin Miriam, verlässliche Blumengießerin für mich, ich für sie mitteltreue Seele für ihre Pflanzen, zog neulich aus. Nach Schöneberg. Auch ziemlich turkoid, Jugendliche, die kein ch sprechen können, sondern „Mülsch“ sagen, wenn sie Milch meinen. Aber Schöneberg, das ist eben nicht proll. Sie zog weg. Kriegsreporterin ist sie und meinte nach dem Sturz der Saddamstatue in Bagdad: „Die Welt ist schrecklich, voller Blut und Hass. Aber wenn ich nach Hause komme, dann soll es schön sein.“ Das hat sie nun davon: Sie hat es ruhig. In ihrem Kiez bekamen die Grünen vorigen Sonntag fast ein Drittel aller Stimmen.
In meiner Straße fielen sie fast unter die Fünfprozentklausel. Einige gibt’s also immerhin. Aber man sieht sie nicht, so wenig wie ihre Kinder. Denn die Grünen schicken ihre Kinder ja meist auf andere Schulen, in andere Horte, auf andere Spielplätze. Nicht zusammen mit all den Ayshes und Torstens, Gökhans und Sabrinas. Sagt eine andere Freundin zu mir, ausgesprochen glückliche zweifache Mutter: „Das musst du verstehen, meine Tochter muss doch gute Chancen erhalten.“ Ich habe kein hartes Herz, also verstehe ich sie. Der Klang ihrer Stimme, der etwas von ihrem schlechten Gewissen verrät, das sie hat, weil im Multikulti-Mus zu leben doch ihre Identität wie Moral stabil hält, beruhigt mich böse: Leute wie sie winden sich, weil lebenspraktisch nicht zu halten ist, was die Fantasie vom guten Leben parat hält.
Neukölln kennt im Übrigen blanke Not. Sittliche vielleicht auch, aber gewiss materielle. Man sieht in meiner Straße Läden, in denen morgens um sieben schon Menschen sind, denen man an den Gesichtern ansieht, dass sie sich selbst keine Perspektive mehr zutrauen. Frauen und Männer, die verlassen wirken und vermutlich auch sind. Sie kennen vielleicht Schöneberg, aber sie könnten dort keinen Platz finden. Das Klima, begegnet man ihnen, ist rau. Montag trug ich eine FAZ unterm Arm – und einer aus der Sozialbibliothek kläfft hinterher: „Drecksack!“ Und: „Wer so was liest, wählt auch CDU.“ Der Ton ist nicht allein bei ihm auf scharfe Verdrießlichkeit auf die Agilen gerichtet, auf die Eiligen – es ist in diesem Viertel überhaupt ein Sound zu vernehmen, der auf Schickimicki und guten Geschmack nicht viel hält, weil es um so was hier nicht geht: „Juten Morgen, Sausocke“, spricht der eine zum anderen kumpelig. Und sagt dem auf die Frage, was er gewählt habe: „Schröder, wa, klar?“ – und kriegt zur Antwort: „Hmmh, klar.“ – „Ick find, Arbeiter müssen SPD wählen.“ – „Klar, hmmh, finde ick ooch.“ Und beide gucken die Straße hinunter, den Himmel hinauf und wieder zurück. Murrendes Einverständnis, klare Verhältnisse, „der Westerwelle, dit jeht jar nich“, ohne viel Gedöns, „sa’ick ma’“.
An ihrer Sozialbücherei vorbei hasten viele Kinder, gleich beginnt die Schule, von ihren Vätern und Müttern begleitet. Die Kleinsten haben in ihren Gesichtern noch die Spannung, die man hat, wenn man sich auf eine gute, interessante Zeit freut. Kopftücher da und dort, aber alle eint ein Tempo, das die Schule als solche fast adelt: Das ist offenbar der Fluchtpunkt, der ein besseres Leben möglich machen kann. Raus aus der Armut, ein Ende der Not. Der Zeit, die man nur totschlagen kann. Neukölln kommt bestimmt, klar, aber wo, wenn’s da nicht endlich gut geht?
Jan Feddersen berichtet von nun an dreiwöchentlich aus den Parallelgesellschaften.
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