JULIA GROSSE TRENDS UND DEMUT : Intervention auf einem Wahrzeichen
Vor einigen Tagen beobachtete ich eine witzige Szene. Londons Bürgermeister Boris Johnson, der seinen Mitbürgern inzwischen das Trinken in der U-Bahn verboten hat, weihte gerade die neue Arbeit des Künstlers Antony Gormley ein. Gormley darf etwas gegen die einladende Leere der legendären „Fourth Plinth“, der vierten Säule auf dem Trafalgar Square tun. Die Idee hinter Gormleys Modell „One & Other“: Die kommenden 100 Tage dürfen sich Normalverbraucher je eine Stunde lang auf die Säule stellen und versuchen, den Blick der Touristen von der militärisch-maskulinen Lord-Nelson-Statue abzulenken. Im Affenkostüm oder mit Jonglierkeulen. Ob Musiker aus Venezuela oder britische Hausfrau, alle bekommen ihren Moment. Ein Traum von Turbointegration. London war wieder einmal sehr stolz auf sich.
Doch dann unterbrach ein Demonstrant die Eröffnungszeremonie. Wie ein pubertärer Partysprenger kletterte er über die Absperrung und stellte sich unerlaubt mit einem Transparent in Positur, während der Bürgermeister gerade seine lauwarm-solidarische Rede hielt. Der Evening Standard sprach am nächsten Tag von einer „dramatischen“ Situation: seinen Protest zu potenzieren, indem man sich auf eine historische Säule stellt, ist den Briten dann doch ein Tick zu viel.
Begeistert wanderte mein Blick über das Plakat. „Rauchverbot in Filmen!“ Wie bitte? Der Demonstrant hatte gerade einen halsbrecherischen Stunt hingelegt, um den Leuten das zu sagen? Hollywoodstars müssen aufhören mit dem Qualmen, weil unsere Kinder das sonst nachmachen könnten?
Aber jedem seine Nachricht. Du bist frei, und du bist wichtig. Das ist der Gedanke, der sich in den kommenden vier Monaten auf der Säule einstellen soll. Freie Meinung auf dem Trafalgar Square, abgefilmt von unzähligen Überwachungskameras, doppelt und dreifach abgesichert mit Auffangnetz. Eine typische Londoner Spaßbremse. Man darf alles, aber immer unter Kontrolle der Erziehungsberechtigten.
Die Londoner haben es scheinbar ohnehin aufgegeben, sich ihren verdienten, öffentlichen Raum zurückzuerobern. Lieber warten sie auf Vorschriften und stellen sich derweil in die Schlange. Protestieren? Da vorne links in dem abgesteckten Quadrat. Rauchen? Da draußen in dem eingezäunten Kreis. Ein Londoner Architekturmagazin testete kürzlich sogar, wie öffentlich öffentliche Plätze in der Stadt wirklich sind. Ergebnis: Sie locken einen in ihre verführerische Architektur, in eine griechische Agora oder in weitläufige Areale mit reizvollen Fontänen, doch die testenden Journalisten wurden mit ihrem Picknickkorb und Dosenbier überall von Sicherheitskräften weggescheucht. Auf dem Trafalgar Square werden die Teilnehmer an Gormleys Werk sogar live vom Sender Sky ins Netz übertragen. Das soll ein Service sein. Und benimmt sich jemand daneben und die CCTV-Kameras erkennen es mal wieder nicht genau, hat man gleich auch noch hochwertiges Beweismaterial.
■ Die Autorin ist Kulturreporterin der taz in London Foto: Gilger