JÖRN KABISCH über DAS GERICHT : Babylonische Geschmacksverwirrung
Die wirklich weite Welt der Küche eröffnet sich nicht bei Muttern – sondern im Studentenwohnheim
Mia schien nett. Ein bisschen schräg kam sie uns zwar schon vor, als wir ihr das freie Zimmer, das Bad und die übrige Wohnung zeigten. Aber die Blicke meiner anderen Mitbewohner sagten: Die ist doch eigentlich total lustig mit ihren Dreadlocks, den lila Lippen und dem Flanell-Rock. Mia fand, es sei doch „drollig“, in eine WG mit Katzen einzuziehen, jetzt, nachdem gerade ihre Ratte gestorben sei. Es gäbe auch nicht viel, was sie mitbrächte, nur die Nähmaschine, weil sie gerade auf der Modeschule aufgenommen worden sei … Eine ganz normale WG-Besichtigung eben, irgendwo in Kreuzberg (und noch Jahre bevor die Menschheit mit Omega-3-Fettsäuren Bekanntschaft machte). Das bisschen Nageln einer Nähmaschine sollte uns drei Altbewohnern nichts ausmachen. Wir setzten uns also mit Mia in die Küche, um das Geschäftliche näher zu besprechen: Miete, Kaution – als ihr Blick auf den Kühlschrank fiel.
Es stellte sich heraus, dass Mia noch eine Besonderheit hatte. Sie wollte daher eine eigene Etage im Kühlschrank haben. „Ich esse gerade nur Fisch“, sagte sie, „eigentlich nur roh, öfter als Sushi.“ Sonst sei sie Vegetarierin. Ob das ein Problem sei? Eigentlich nicht, fand die WG, und ich ging zum Kühlschrank, packte die zwei ungebackenen Leberkäse – wir hatten damals eine kurze bayrische Phase –, die Rostbratwürste, den Krautsalat und den süßen Senf in das verwaiste Gemüsefach, drehte mich um und präsentierte ein leeres Regal. Mias Lächeln hatte was leicht Artifizielles bekommen.
Nachdem Mia weg war, diskutierten wir natürlich, ob eine Ovo-Lacto-Pescetarierin, wie es wissenschaftlich heißen muss, in einen proteinseligen carnetarischen Haushalt passen würde. Als nach ein paar Minuten das Wort „Grätenlutscherin“ fiel, war die Antwort klar.
Dass das Wort so schnell fiel, lag auch daran, dass wir damals alle genug Abenteuer mit den Kochleidenschaften verflossener Mitbewohner gemacht hatten, vor allem ich. Im Studentenwohnheim. Dort sind nicht nur Menschen aller Nationen zusammengewürfelt, sondern auch ihre Essleidenschaften.
Ich erinnerte mich nach Mias Besuch sofort an eine Asiatin, der wir im Wohnheim sogar einen eigenen Kühlschrank stifteten. Die Frau sprach nämlich kein Wort, kochte dafür aber jeden Abend Gerichte ihrer koreanischen Heimat. Meist Fisch, der, bevor er in den Topf kam, tage- oder wochenlang im Kühlschrank in einer Brühe vor sich hin verweste. Die Marinade roch so unappetitlich, dass der Verdacht immer aufdringlicher wurde: „Schlangenpipi“. Nur einen Vorteil hatte die Koreanerin mit ihrem Geschmack. Alle anderen hatten Vorhängeschlösser an ihren Kühlschranktüren, sie brauchte das nie. Und sie hatte, wenn sie kochte, die Gemeinschaftsküche immer für sich.
Wenn Jurek den Herd besetzte, dann verkrümelte sich dafür die Koreanerin. Obwohl er immer alle einlud, mitzuessen, und auftischte wie seine Großmutter in Polen. Jurek experimentierte leidenschaftlich. Einmal kam er in die Küche, ein ganzes Lamm auf den Schultern, das er über 24 Stunden bei kleinster Hitze braten wollte – ohne es zu zerlegen. Nur mit der kleinen Schwierigkeit, dass der Ofen zu klein war. Für Jurek kein Problem. Er nahm alle Backbleche raus, drückte und zerrte, bis er das Tier in einer kompakten Lotus-Position hatte, umwickelte es mit Paketschnur, stopfte das Paket ins Backrohr und ging zu seiner Slawistik-Vorlesung. Nach vier Stunden kam die Feuerwehr. Die Schnur hatte Feuer gefangen, das Lamm die Hinterbeine wieder ausgewinkelt und den Ofen gesprengt.
Aber Schluss mit den Gruselgeschichten. Denn bei den Fremden konnte ich auch viel lernen. Wie man Reis mit Berberitzen kocht, zeigte mir Amir, der aus Teheran stammte. Wenn Suha Couscous machte, lud ich mich meistens mit ein. Und bei einer afrikanischen Hochzeit gab es einen köstlich scharfen Erdnuss-Schweine-Eintopf.
Mia übrigens rief nach ein paar Tagen noch mal an und fragte, ob das Zimmer noch frei sei. Leider nicht, sagte ich einfach. Aber abends ging die ganze dreiköpfige WG das erste Mal Sushi essen – als kleine Abbitte.
Fotohinweis: JÖRN KABISCH DAS GERICHT Wohl bekomm’s? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN