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Archiv-Artikel

JENNI ZYLKA über PEST & CHOLERA Es qualmt das Kind vom Rind in Plastik

Unter mir wohnt ein Geheimrezept: Ein rauchender, zotteliger Seewolf und seine Kalbsbrust à la Créole

Mein unterer Nachbar hat neulich ein ganzes, in Frischhaltefolie eingeschweißtes Kälbchen in den Backofen geschoben. Ich merkte das daran, dass schwarze Rauchwolken in mein Küchenfenster zogen (die Nachbarküche liegt genau unter meiner), die einen Geruch aus Wald, geschmolzenem Plastik und jugendlicher Verzweiflung über den viel zu frühen Tod mitbrachten.

Mit den Heinz-Erhardt-Zeilen „Es spielt das Kind vom Rind im Wind / ist guten Mu-Mu-Mutes / es kennt nicht Not, nicht den Papa / nicht den Geruch des Blutes“ im Kopf treppte ich ein Stockwerk tiefer, um nachzuschauen, ob der Nachbar nicht vielleicht eingeschlafen sei. Man hört so viel über eingeschlafene Alkoholiker, die mit ihrer Zigarette ganze Landstriche vernichten. Und mein Nachbar scheint ein starker Raucher zu sein. Nikotin schiebt sich nicht nur durch die Bodenritzen in mein Schlafzimmer und gibt mir in besonders ungelüfteten Winternächten das pittoreske Gefühl, in einer kleinen Kneipe zu dösen, sondern es quillt auch aus seiner Haustür – um den Türrahmen herum ist ein breiter, gelblicher Streifen.

Trotz meiner funktionsgestörten Asthmalunge fand ich das alles bis jetzt nicht bedenklich. Aber das mit dem schwarzen Rauch machte mich unruhig. Ich klingelte also – das erste Mal – bei ihm, und während ich die gelb angelaufene Tür musterte, um zu überlegen, an welcher Stelle man sie zur Not am besten eintreten könnte, näherten sich von drinnen schabende Geräusche. „Hallo?“, knarzte eine verrauchte Stimme. „Hallo, ich bin die nette Dame von oben“, rief ich, „ich wollte Sie kurz etwas fragen.“

Der Nachbar schien zu überlegen. „Ick hab keene Kartoffeln und nur noch wenije Eier“, knurrte er durch die geschlossene Tür, und hustete bekräftigend. „Nein, harhar“, versuchte ich es, „ich will mir nichts von Ihnen leihen. Es geht um Ihre Küche …“

Ein Schlüssel klirrte, und der Nachbar öffnete. Er sah so aus, wie einer aussieht, der 1.000 Zigaretten am Tag raucht und zwischendurch ganze, schwarz gebratene Kälbchen in Frischhaltefolie verdrückt. Die schabenden Geräusche kamen von seinen Krücken, in der linken, knorrigen, gelbschwarzen Hand qualmte eine dicke Tabaktüte, der zottelige Bart und der scheele Blick gaben ihm das Aussehen eines etwas zu klein geratenen Seewolfs einige Jahre nach dem Stranden auf der einsamen Insel.

„Wat ist mit der Küche“, fragte er missmutig. „Ehrlich gesagt, hab ich mich gefragt, ob Sie beim Kochen eingeschlummert sind“, sagte ich, „denn es kommt dicker, schwarzer, übel riechender Qualm aus ihrem Küchenfenster.“ „Wat, einjeschlafen“, brummte er, „doch nicht vorm Mittachessen! Komm mal mit.“ Dann krückte er durch seine Wohnung. Ich gab mir einen Ruck und folgte. Was kann schon passieren, sagte ich mir, immerhin sind die Nachbarn die Ersten, die die Polizei befragen würde.

Die Wohnung schien mir viel kleiner als meine – vielleicht lag das an der schlechten Beleuchtung und dem Nebel. „Hier“, sagte er, als wir in der Küche angekommen waren, und zeigte mit der Krücke auf den Ofen, „ick brat mir jerade Kalbsbrust à la Créole“. Auf dem Herd stand eine riesige Pfanne, in der zwei schwarze Irgendwasse brutzelten. „Und das muss so schwarz sein?“, fragte ich. „Klar“, sagte der Nachbar, „dit ist „blackened meat“. Altet kreolischet Geheimrezept. Hab ick beim Kartenspielen ’nem Smutje abgeluchst. Willste mal probieren?“ Ich überlegte kurz. „Soll ich uns Kartoffeln dazu holen?“, fragte ich dann. „Sie haben doch keine. Ich hab noch welche oben …“

„Jut“, sagte mein Nachbar. „Ick setz schon mal Wasser auf. Kannst die Tür offen lassen.“

Als ich mit den Kartoffeln zurückkam, hatte der Nachbar einen kleinen Tisch gedeckt. „Dauert noch ’n Minütchen“, sagte er. „Rauchst du?“ „Nein“, sagte ich zögernd, „aber ich würde wohl … also, wenn Sie Schnupftabak hätten …“. „Klar“, sagte er und zog eine Blechdose hervor. Er schob sie mir hin. Auf dem Deckel las ich „Herr der Sieben Weltmeere“. Ich nahm eine kräftige Prise davon. „Wohl bekomm’s“, sagte mein Nachbar und grinste, dass ihm fast das Glasauge rausfiel.

Fragen zu Seewölfen? kolumne@taz.de Morgen: Peter Ahrens über PROVINZ