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Archiv-Artikel

JAN FEDDERSEN über PARALLELWELTEN „Wenn ich mir zu sagen erlauben darf …“

Viel zu oft allein zu Hause? Unnötig. Lesungen und Vorträge gibt’s jeden Abend. Wie neulich im hiesigen Kulturverein

Vereine, Gesellschaften, Zirkel tun gutes Werk – in Berlin gibt es tausende, anderswo auch reichlich. Sie werden unterschätzt. Meist haben sie nur wenige Mitglieder, aber ihr gesellschaftliches Leben stiftet das, was eine tote von einer lebendigen Community unterscheidet: über Vorträge, Lesungen, Podiumsdiskussionen. Wie bei einem Vortrag neulich, der auf 19 Uhr anberaumt wurde und schon fünf Minuten später begann, was als sicheres Zeichen gelesen werden durfte, dass man mit mehr als jenen, die dort im kleinen Saal saßen, nicht rechnete: Es waren deren sieben. Das Nesthäkchen des Abends war erst 38.

Gegeben wurde ein Vortrag, der ungefähr so lautete: Zur Aktualität Emilie Krippenstrohs im Spiegel der Generationen und vor dem Hintergrund der Geschichtsblindheit im Sinne Lacans. Oder so. Der Titel ist erfunden, soll ja keiner beleidigt sein, so viel aber ist sicher: Die Figur, mit deren Schalten und Walten wir in anderthalb Stunden sehr gründlich ins Bild gesetzt wurden, war eine prominente, und zwar vor sehr langer Zeit.

Schön an solchen Abenden ist, dass man wirklich immer was dazulernt. Wir wissen das, denn wir scheuen auch nicht, gleichwohl zunächst desinteressiert, Vorträgen in der Mathematischen Gesellschaft zu lauschen oder einem Podium der Pudelzüchtergemeinschaft. Das ist wie beim Zappen: Irgendein informatorisches Schnipselchen bleibt immer haften. Außerdem meidet man das Alleinsein zu Hause, man geht quasi vor die Tür, um etwas zu erleben, was weder laut (Disco!) noch strapaziös (Spaziergang?) ist.

Lesungen sind allerdings etwas Besonderes, und noch besonderer, wenn sie in multikulturellen oder jüdischen Szenen abgehalten werden. Die einen befürchten immer irgendein Ende des Guten (meistgeäußerte Bemerkung: „Droht ein neuer Rassismus?“), die anderen verzweifeln ob der Vergessenheit der zeitläuftigen Umstände („Wird man je sich wieder an Konrad Wolf erinnern?“).

Die echten Kenner sind keine Neugierigen im engeren Sinn. Sie wollen Bestätigung, Trost auch, vor allem jedoch Ermutigung: Ja, Konrad Wolf verdient eine Renaissance; klar, Rassismus ist doof. Ist so ein Abend beendet und verlegt sich auf Nacherörterungen mehr privateren Charakters in der Kneipe, sind alle zufrieden: Ja, endlich, das musste mal gesagt werden. Im Grunde sind Abende wie diese soziale Chancen für jene Sorte Zeitungsleser, die lieber Leserbriefe schreiben, als bei einer Geschichte, die ihnen nicht passt, einfach weiterzublättern: und zwar eine sprechende Chance. Lesungen sind von Verlagen gefürchtet: der Koreferate wegen, die gern in Frageform abgespult werden, und zwar ohne rhetorisches Feingefühl, sondern auf einem Ton verlautbart: mörderisch. Der Vortragende wird belehrt, geschurigelt, ihm zu bedenken gegeben, selten pampig, meist im aggressiven Untertänigstenstil: „Wenn ich mir zu sagen erlauben darf …“

Hilft ja nichts. Eine sagt, Emilie Krippenstroh bleibe unbegreiflich ohne gendertheoretische Durchleuchtung, ein anderer beteuert, gerade dies verharmlose ihr Oeuvre aus dem historischen Zusammenhang heraus ins Ewigheutige, was falsch sei, wie man bereits, den Freundschaftsbegriff Derridas recht besehen, in den Fußnoten der Gefängnistagebücher Antonio Gramscis sui generis hinlänglich studieren könne.

Skeptische Gemüter, interessiert an Vermittlung und also Transparenz beim intellektuellen Fluss als solchen, mögen sagen, weil man nichts mehr verstehe, müsse man den teeren & federn, das Maul stopfen. Aber das tut man bei Vorträgen nicht, sondern wendet sich anderen Gedanken zu, und seien sie intimer, öffentlich unäußerbarer Natur. Als ob es bei Lesungen um Verständlichkeit ginge. Emilie Krippenstroh jedenfalls, das stand hinterher fest, war mal wieder ein gemütlicher Anlass, so etwas wie Vereinsleben zu spüren. Morgen gehen wir zu den Verfahrenstechnikern, vier Häuser weiter, Thema: Brückenbau in Uganda – tropische Kolonialschwingungen bei der Betonverfestigung. Wir sind gespannt.

Fragen zu Lesungen? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander über SCHICKSAL