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Archiv-Artikel

Inzwischen von Nutzen

Die Mauer ist weg. Es blieb ein Streifen brachliegender Fläche, dessen Besitzer nicht bauen wollen und nicht verkaufen können. Also haben sich die Anwohner das Land angeeignet

Ein Bürger wünschte sich ein Hundeklo. Der Mann hatte eine Zeichnung dabeiMarkus Mohn wollte Tatsachen schaffen. Er sammelte Geld und pflanzte einen Wald

VON NADJA KLINGER

Man kann bei Volkmar Nickol nicht einfach aus dem Fenster sehen. Er gibt einem ein paar Sekunden. Man blickt übers Kopfsteinpflaster der Bernauer Straße auf ein verschnarchtes Stück Wedding. Man sieht Flutlichtscheinwerfer, die sich aus einem leeren Sportstadion in den grauen Herbsthimmel recken, dahinter hocken Mietshäuser vom Prenzlauer Berg. Dann hält er einem den Diagucker vor die Nase.

Es gibt nur ein Bild: dasselbe Stück Berlin, nur dass mittendrin die Mauer steht. Starr und schweigsam teilt sie die Stadt. Jemand aus dem Haus hat das einst fotografiert und Nickol später geschenkt. Er ist vor vier Jahren hier eingezogen. Seine Wohnung wäre größer, aber 1961 sind etliche Quadratmeter abgehackt worden. Sein Fenster befindet sich dort in der Wand, wo es vorm Mauerbau ins Hinterhaus ging. Dia vor die Nase, Dia weg, vor die Nase, weg. Schon vielen Gästen hat Nickol diese kleine Wohnzimmervorstellung gegeben. Aber irgendwie kriegt er keine Routine in die Sache. „Ein verrückter Ausblick“, fragt er. „Verrückt, oder?“ Er hat Lampenfieber.

Volkmar Nickol wurde in Westberlin geboren. In Kreuzberg, wo er seine Kindheit verbracht hat, haben sie ihm die Mauer vor die Nase gestellt. Je älter er wurde, desto enger war die Stadt. Er ist ihr immer mal wieder entflohen. Nach dem Architekturstudium hat er sie endgültig verlassen. Endgültig war 1989 vorbei. Nickol saß in Braunschweig oder Darmstadt, da ging in Berlin die Post ab. Unversehens ist er nach Hause zurückgekehrt.

Als er ins Haus an die Bernauer Straße kam, war der Grenzstreifen zugewachsen. Sträucher schossen aus dem Boden. Im Sommer stand das zerzauste Gras meterhoch. Es war ein versöhnlicher Anblick. Vor allem die Leute, die schon im Grenzgebiet gewohnt hatten, konnten ihn brauchen. Was brauchten sie noch? Parkplätze. Bald hatten ihre Autos das Areal zu einem Sandbodenplatz gewalzt. In kraterartigen Löchern staute sich Regenwasser. Baumaterial wurde abgeworfen, Müll. Man wollte lieber auf das Dia als durch Nickols Fenster gucken. Ob er nicht absperren könnte, hat Nickol den Besitzer des Mauergrundstücks hinterm Haus gefragt. „Ein Zaun kostet Geld“, hat der Mann geantwortet. „Und was hab ich davon?“

Die meisten Besitzer der Mauergrundstücke im Innenstadtbereich haben so gut wie nichts von ihrem Land. Sie könnten es bebauen, aber weder Wohn- noch Gewerberaum hoch genug vermieten. Sie könnten an Berlin verkaufen. Wenn das Land Geld hätte. Sie können auf bessere Zeiten warten. Das tun sie. Wie viele Jahre? „Machen Sie doch derweil irgendwas!“, hat der Grundstückseigentümer diesen Sommer zu Volkmar Nickol gesagt.

Da hatte der sozusagen ein Stück Mauerland, aber keine Idee. Er ist zur Bürgersprechstunde im Nachbarkiez gegangen. Dort, im Sanierungsgebiet Rosenthaler Vorstadt, blicken sie auch auf Mauerland. Ein Bürger wünschte sich ein Hundeklo. Es sollte zehn mal zehn Meter groß sein, einen Eingang und einen Ausgang haben. Der Mann hatte eine Zeichnung dabei. Sie war akribisch, aber eigentlich nicht das, was Nickol vorschwebte.

Die Bewohner der Rosenthaler Vorstadt ließen auf dem Grenzstreifen ihre Drachen steigen. Auf Podiumsdiskussionen waren sie sich einig, dass sie gern einen Park an der Bernauer hätten. Sie ignorierten Schilder, auf denen steht, dass das Mauerland Privatland und Betreten verboten ist. Aber mehr haben sie nicht getan.

Lutz Mauersberger von der Betroffenenvertretung Rosenthaler Vorstadt versucht seit Jahren die Anwohner zu animieren, etwas für den Mauerpark zu tun. Es gelingt ihm nicht. Mauersberger war in der Mauergedenkstätte Bernauer Straße. Man hat ihm gesagt, man wolle Spuren sichern. Man interessiere sich für jedes Teil, das jemand ausbuddelt, aber nicht dafür, dass die Menschen das Mauerland in Beschlag nehmen. Mit dem Stadtteilverein im Wedding hat Mauersberger auch gesprochen. „Die gucken überhaupt gar nicht gern in unsere Richtung“, sagt er.

Nachdem er in der Sprechstunde war, hat Volkmar Nickol Zettel verteilt: ob noch jemand mitmachen wolle. Als sich tatsächlich Leute meldeten, tickte schon die Maueruhr. „Jetzt aber schnell“, sagte Nickol zu den Nachbarn, „der 13. August steht vor der Tür.“

Jemand hat ihnen über 100 alte Autoreifen geschenkt. Mit den Reifen haben sie ein Rundbeet eingezäunt, es mit Erde gefüllt. Pflanzen haben sie keine. Das Beet ist leer, hässlich. Es war Aktion. Das Gegenteil von Nichtstun.

Am 13. August sind sie mit Spaten raus und haben einen Graben gebuddelt. Sie haben Kellermauern des ehemaligen Hinterhauses gefunden. Passanten blieben stehen. „Ja, was machen Sie denn da?“, haben sie gefragt. Nickol hat ihnen die Stahlteile im Mauerwerk gezeigt, die gekappten Leitungen. „Sie sehen hier, was früher an der Bernauer Straße war“, hat er gesagt. Er stand stolz am Graben, die Sonne kraulte ihm den Nacken. Seine Geburtsstadt fühlte sich plötzlich wie Heimat an. „Haben Sie eine Erlaubnis?“, haben die Passanten gefragt.

Zum Grabenschaufeln kam auch die Presse. Seit den Zeitungsartikeln ist Volkmar Nickol Chef der „Initiative Zwischennutzung Mauerstreifen“. Der Name ist nicht von ihm. Er ist zu groß. Sie sind nicht viele. Etwa die Hälfte der Leute aus dem Haus, zwei Paare von nebenan. Als der 9. November in Sichtweite kam, hat Nickol gefragt: „Wollen wir mal wieder?“ Die Nachbarn waren bereit. „Nimm's in Angriff!“, haben sie gesagt. „Jetzt hängt's an mir“, sagt Nickol. Er ist der Mauermann. „Mein Hammer ist bei dir da unten weggekommen“, hat ein Nachbar gemeldet. „Schick mal ’ne Rundmail!“

Ursula Jesgulke hat keinen Computer. Sie hat ein kleines Haus in Lichtenrade im Süden von Berlin. Sie hat dicke Hefter mit Post, Abrechnungskram, sowie stapelweise Infoblätter, die sie viermal im Jahr schreibt. Sie ist Vorsitzende eines Vereins, der sich um ein Stück Mauerland zwischen Lichtenrade und dem Land Brandenburg kümmert. Der Verein hatte 120 Mitglieder. Der erste Vorsitzende ist tot. Die nächste Vorsitzende ist auch nicht mehr die Jüngste und hat letzten Dezember alles hingeschmissen. „Dann mach ich's“, hat Ursula Jesgulke gesagt. Auf der Versammlung waren sie gerade noch so viele, dass gewählt werden konnte. Alle haben Ursula Jesgulke die Stimme gegeben. Aber sie haben auch gesagt, dass sie müde sind. Dass die jungen Leute ransollen. Aber niemand kennt einen, der ranwill.

Das wäre nicht so schlimm, wenn das mit dem Mauerstreifen geritzt wäre. Birkenwald ist dort gewachsen. Zwischen die Birken hat der Verein heimlich Eichen und Kiefern gesetzt. Aber die Eigentümer der Grundstücke hoffen, sie bald bebauen zu können. Im Frühjahr hat Ursula Jesgulke einen beim Roden erwischt. Sie hatte ihm rein rechtlich nichts zu sagen, hat trotzdem losgepoltert. Mit dem Verein rede er nicht, hat der Mann gesagt. „Dann reden Sie mit mir!“, hat sie erwidert. Das hat sie nicht so gemeint. Sie ist vom Wunsch, auf Mauerland wild gewachsenen Wald zu erhalten, nicht mehr zu unterscheiden. Sie war Lehrerin, hat Kinder großgezogen, die Tochter ist krank, der Exmann pleite, sie selbst ist auch nicht gesund. Mit dem Mauerstreifen hat sie sich eine weitere Lebensaufgabe erobert.

Im Wäldchen nimmt sie ihre Hunde nicht an die Leine. Der Förster kommt und ermahnt. „Ich bin die Vorsitzende vom Verein“, sagt sie. „Ach so“, sagt der Förster. „Wie steht's?“

An die 30 Leute sind noch Mitglieder. Jeder zahlt 9 Euro im Jahr. Ursula Jesgulke legt Spendenüberweisungen in die Infoblätter, aber keiner füllt eine aus. Als sie das letzte Mal Müll gesammelt haben, waren sie zehn. Jesgulke steht an Infoständen. Jesgulke schreibt an Naturschutzbehörden. Wenn sie was macht, dann richtig. Früher hat sie 50 Mark gespendet. Jetzt muss sie sparen. Das Sparen ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Sie merkt nicht, dass es eiskalt in ihrer Wohnung ist. Dass sie bei Frost auf dem Mauerstreifen ohne Socken Fahrrad fährt. „Nur über meine Leiche bauen Sie hier!“, sagt sie zum rodenden Mauerlandeigentümer. Dass er nicht mit ihr redet, nützt nichts. Sie ist nicht totzukriegen.

Nicht weit von ihr wohnt Markus Mohn. 1989 war er Abiturient. Das Mauerland vor seinem Haus gehört den Berliner Stadtgütern. Ehe die auf irgendeine Idee kamen, wollte er Tatsachen schaffen. Er hat in Lichtenrade Geld gesammelt, tausende von Mark in einer Woche. Die Leute waren euphorisch, haben Baumpatenschaften übernommen. Mohn hat eine Umweltinitiative gegründet und mehrere Stück Mauerstreifen faktisch in Beschlag genommen. Ein Bauer hat für 50 Mark gepflügt. Der Förster aus Brandenburg, Anwohner und die NVA haben geholfen, Wald zu pflanzen. Dann kam ein Investor und wollte ein Industriegebiet hinsetzen. Aber Wald, der steht, kann nicht einfach wieder beseitigt werden.

Ursula Jesgulkes Mauerstück schließt sich gleich Mohns Stück an. Sie kommt auf seine Versammlungen. Es war mal eine Mauer, das ist nicht der einzige Grund, zusammenzuhalten. Auch zu Mohns Truppe gehören nicht viele Leute. 20 im Kern. Die meisten sind Rentner. Sie folgen Markus Mohn gern, wenn er mit Hecken, Büschen, Gewässern auf Mauerland Tatsachen schaffen will. Sie rufen ihn an. „Du, ich hab da Müll liegen sehen!“ Mohn antwortet: „Dann nimm ’ne Plastiktüte mit!“ Er findet, die Arbeit auf dem Mauerstreifen habe was Gesellschaftliches. „Oder vielleicht auch nur was Geselliges“, sagt er.