: Invalidenversicherung für die Pferde
■ Der Palio von Siena, eines der traditionsreichsten, spektakulärsten und brutalsten Pferderennen der Welt, ist zunehmender Kritik von italienischen Tierschützern ausgesetzt
Von Horst Stankowski
Siena (dpa) - Zweimal in jedem Sommer, am 2. Juli und am 16. August, ist Siena der Touristenmagnet Italiens und geben sich die Sienesen selbst einer Massenhysterie ohnegleichen hin. Es sind die Tage des „Palio“, des spektakulärsten Pferderennens der Welt. Dann drängen sich an die 50.000 Menschen, schwitzend in der Hochsommerhitze, auf dem festlich geschmückten „Campo“, dem mittelalterlichen Rathausplatz der toskanischen Stadt. Sie erleben einen farbenprächtigen Umzug in historischen Kostümen; den Mörserschuß, den Einmarsch der zehn Rennpferde mit ihren Jockeys in den Farben der konkurrierenden Stadtviertel, das nervöse Getrampel der aufgeregten Tiere, bis sie endlich in der ausgelosten Reihenfolge am Start stehen; dann meist noch ein bis zwei Fehlstarts und schließlich, unter ohrenbetäubenden Anfeuerungsrufen, den donnernden Galopp der Pferde mit ihren sattellos reitenden Jockeys.
Das Rennen ist von atemraubender Dramatik. Rauh und brutal geht es dabei zu. Dreimal müssen die Pferde den zum Palazzo Pubblico (dem Rauthaus) hin abfallenden Platz mit seinen zwei besonders engen Kurven umrunden. Ein gefährlicher Parcours. Am tückischsten ist die winklige „San-Martino -Kurve“, in die die Teilnehmer bergab hinreinrasen. Immer wieder kommt es vor, daß Pferde dann nicht die Kurve kriegen und gegen die an den Holzpalisaden hängenden Polster geschleudert werden, daß es nur so dröhnt. Stürze sind dabei nicht selten. Auch Löcher im Tuffbelag, bei den Probeläufen von den Hufen geschlagen, lassen manchmal ein Pferd stolpern. Die Jockeys benutzen ihre Ochsenziemer nicht nur zum Antreiben ihrer eigenen Pferde, sondern - was das Reglement erlaubt - auch zum Abdrängen von Gegnern oder gar, um einen Reiter vom Pferderücken zu stoßen. Allerdings ist ein reiterloses Pferd nicht „out“. Auch ohne Jockey holt es, wenn es als erstes durchs Ziel stürmt, für seine „Contrada“, sein Stadtviertel, den Sieg.
Der Palio im Juli kostete diesmal gleich zwei Pferde. Bei den Probeläufen brach sich „Vienna Girl“ ein Bein und wurde getötet. Beim Rennen selbst rammte „Gaucho“ in der San -Martino-Kurve die Umzäunung mit solcher Wucht, daß er schwer stürzte und, alle vier Beine zum Himmel reckend, verendete. Herzschlag lautete die Diagnose. Vor allem an diesem dramatischen Unfall entzündete sich eine lebhafte Polemik. Ein Tierschutzbund, unterstützt von dem bekannten Franziskaner-Theologen Pater Gabriele Adani, wandte sich vehement gegen den Palio. Die Grünen im Stadtrat forderten, zumindest die Schwachstellen in der Organisation zu beseitigen.
Von der Abschaffung des Rennens wollen die Sienesen auf keinen Fall etwas wissen. Denn es ist keine künstlich - im Blick auf Tourismus und Geschäft - am Leben gehaltene Folklore, sondern seit Jahrhunderten verwurzelte Tradition. Diese erlebt zwar an den beiden Renntagen ihren Höhepunkt, hält aber die rivalisierenden und in ihren Eigenheiten scharf abgegrenzten „Contrade“ das ganze Jahr hindurch emotional und auch finanziell in Spannung. Palio-Komitees mit „Kapitänen“ an der Spitze sind immer auf dem Ausguck nach geeigneten Pferden. Die auf Rennplätzen anzutreffenden, hochsensiblen und schnellen Renner sind für den Palio nicht geeignet. Robustheit ist wichtiger. Oft hängt der Ausgang eines Rennens von langfristig eingefädelten geheimen Abmachungen zwischen reicheren und ärmeren Stadtvierteln ab. Durch Bestechung von Komitees und Korrumpierung von Jockeys werden Siegesaussichten verbessert.
Der Palio ist benannt nach dem Banner mit dem Bild der Gottesmutter, das als Siegesprämie winkt. Zu den Auftaktritten des Festes gehört, daß die Pferde in die Kiche ihrer Viertel geführt und dem Schutzpatron geweiht werden. Am Morgen des Renntages schließlich segnet der Bischof auf dem Domberg sämtliche teilnehmenden Pferde und Reiter.
Auf diese Mitwirkung des Klerus beim Palio-Auftakt weist denn auch Sienas Bürgermeister den Pater Adani hin, der unter Berufung auf den heiligen Franziskus die beim Palio unvermeidlichen „Leiden der Tiere zum Vergnügen der Menschen“ verdammt. Empört entgegnete das Stadtoberhaupt: „Und die Pferde, die sonst auf den Rennplätzen überall auf der Welt verunglücken?“
Auch der erfolgreichste Palio-Jockey Aceto (13 Siege) findet: „Der Palio ist nicht gefährlicher als die vielen Hindernisrennen.“ Der Jockey räumt indessen ein: „Was die Pferdebesitzer da für den Palio anbringen, ist nicht immer vollwertiges Material. So hat sich herausgestellt, daß 'Vienna Girl‘ - das Pferd, das bei den diesjährigen Vorläufen dran glauben mußte - noch einen Monat vorher ein Bein in Gips hatte.“ Einer der „Kapitäne“, Romano Rossi, erinnert sich, daß einmal ein beidäugig blindes Pferd angebracht wurde, das bei der ersten Musterung keinem auffiel.
Hier vor allem hakt die Stadtratsfraktion der Grünen ein. Sie verlangen eine gründliche Musterung der Tiere und Ausbesserung der Bodenlöcher nach jedem Probelauf und jedem Rennen. Verletzte Pferde sollten nicht getötet werden, sondern ein Gnadenbrot erhalten: Die Gelder, die die „Contrade“ für Bestechungszwecke aufwenden, sollten sie besser für eine „Invalidenversicherung“ zugunsten der Pferde aufwenden. Und nicht zuletzt fordern die Grünen eine Doping -Kontrolle.
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