Interview: "Die USA sind in Afghanistan Besatzer"
Für Afghaninnen ist die Lage heute schlimmer als unter den Taliban. Denn Warlords der Nordallianz führen, unterstützt von den USA, ein Schreckensregiment, so die afghanische Politikerin Malalai Joya.
taz: Frau Joya, als die USA 2001 den Krieg gegen die Taliban begannen, wurde er auch mit der Befreiung der afghanischen Frauen begründet. Wie frei sind afghanische Frauen heute?
Malalai Joya: Für die Frauen ist die Situation heute schlimmer als unter den Taliban. Die USA haben sich den übelsten aller denkbaren Verbündeten geholt: die Kriegsfürsten der Nordallianz, die für furchtbare Verbrechen verantwortlich sind. Sie morden und vergewaltigen weiter. Die Lage der Frauen ist hoffnungslos. Hunderte Frauen verbrennen sich jährlich selbst, oder sie nehmen sich den Strick, weil sie an Männer verkauft werden wie Vieh. 80 Prozent der Ehen sind erzwungen.
Aber heute gehen Mädchen zur Schule, Frauen haben Jobs. Das sind doch Fortschritte.
Dass es in Kabul und anderen Städten Fortschritte gibt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, wie furchtbar die Lage in den Provinzen ist. Es gab Hilfe für Bildung, aber das meiste ist in die Taschen korrupter Warlords und Druglords geflossen, die mit unserer Regierung kooperieren. In den Provinzen ist kaum etwas angekommen. Nach einer aktuellen Studie von Oxfam besucht nur jedes fünfte Mädchen eine Grundschule, nur eins von zwanzig eine weiterführende Schule.
Es gibt aber doch viele Initiativen für Frauen und Mädchen.
Gerade für Aktivistinnen, die sich für Bildung für Frauen engagieren, ist die Situation enorm schwierig geworden. Den Fundamentalisten passt es nicht, dass Frauen Zugang zu Bildung bekommen und ihre Rechte einfordern. Nicht mal in Kabul sind wir sicher. Kürzlich wurde eine 22-jährige Journalistin in ihrem Haus in Kabul erschossen. Eine andere Journalistin wurde nachts im Schlaf ermordet, neben ihren Kindern. Es gibt jede Menge solcher Beispiele. Auch ich habe mehrere Anschläge überlebt. Bildung wäre der Schlüssel für die Zukunft Afghanistans. Doch solange wir vor den Warlords nicht sicher sind, werden unsere Frauen keinen Zugang dazu haben.
Sie sprechen viel von der Gewalt der Warlords, aber kaum von der der Taliban.
Das afghanische Volk ist gefangen zwischen zwei Feinden: den Taliban und den Kriegsfürsten. Erstere sind Gegner der USA, Zweitere sind Partner. Beide haben aber furchtbare Verbrechen begangen. Sogar Präsident Hamid Karsai hat kürzlich gesagt, dass die Nordallianz inzwischen gefährlicher ist als die Taliban. Aber Karsai ist eine Geisel der Fundamentalisten, die in unserem Parlament inzwischen die Oberhand haben, und schließt Kompromisse mit ihnen. Gleichzeitig versuchen unsere Nachbarländer mit Waffentransporten ihre Interessen durchzusetzen und destabilisieren unser Land.
Sie fordern einen Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan, weil diese Besatzer seien. Ist das nicht unverantwortlich?
Solange diese Truppen nur den falschen Kurs der USA unterstützen, macht es keinen Sinn, dass sie da sind. Die Gewaltspirale wird sich weiterdrehen, solange die USA Mörder und Diebe unterstützen. Die Afghanen wünschen sich wirkliche Hilfe, sie wünschen sich, dass diese Leute entmachtet werden, und nicht, dass sie noch mehr Macht bekommen. Deshalb appelliere ich an deutsche Politiker, diesen falschen Kurs nicht fortzusetzen.
Aber würde ein verfrühter Rückzug der Truppen nicht völliges Chaos bedeuten?
Wir brauchen Hilfe, aber keine Besatzung wie derzeit. Keiner der Staaten, die Truppen in Afghanistan haben, versucht der fatalen Politik der USA etwas entgegenzusetzen. In Afghanistan wird nicht Demokratie geschaffen, sondern die Demokratie verhöhnt. Es wird nicht Terrorismus bekämpft, sondern Terror produziert.
Was erwarten Sie konkret von deutschen Politikern, mit denen Sie hier sprechen?
Wenn sie wirklich helfen wollen, sollten sie die Demokraten unterstützen, die in Afghanistan bedroht werden oder ihre Projekte nicht fortsetzen können, weil sie keine internationalen Geber finden. Außerdem erwarte ich Druck auf die USA, damit sie ihre falsche Politik in Afghanistan ändern. Und, drittens, dass im Rahmen der UN versucht wird, unsere Nachbarländer davon abzuhalten, unser Land weiter zu destabilisieren.
Afghanistan ist zutiefst hierarchisch geprägt, lokale Clans herrschen, das Individuum zählt wenig gegenüber der Gemeinschaft. Ist Demokratie da überhaupt eine Perspektive?
Ja, die Afghanen glauben an Demokratie. Und an die Menschenrechte. Sie sind Menschen wie Sie. Aber sie durften jahrzehntelang nicht frei atmen, weil unsere Feinde - unterstützt aus dem Ausland - unser Land zum Kriegsschauplatz gemacht haben. Unser Land würde schnell zur Demokratie finden, wenn das Ausland unsere Demokraten unterstützen würde.
INTERVIEW: ANETT KELLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern