Interview mit Religionskritiker: "Warum ich kein Christ sein will"
Die Kirche kritisieren viele. Uwe Lehnert reicht das längst nicht mehr. Nach seiner Emeritierung schrieb sich der Pädagoge eine Abrechnung von der Seele.
taz: Herr Lehnert, haben Sie in der Adventszeit auch mal eine Kerze angezündet?
Uwe Lehnert: Natürlich. Die Kerze ist ja kein christliches Symbol. Und wenn es so wäre, hätte ich kein Problem damit. Wir sind in einer christlich geprägten Kultur groß geworden, die können wir nicht abschütteln ohne Verlust an liebgewordenen Traditionen.
Aber Weihnachten ist für Sie kein Thema, oder?
75, kam von der Informatik zur Erziehungswissenschaft und begründete 1980 als Professor an der FU den Arbeitsbereich "Bildungsinformatik und Bildungsorganisation". Nach seiner Emeritierung 2002 widmete er sich Fragen der Religion. Sein Buch "Warum ich kein Christ sein will - Mein Weg vom christlichen Glauben zu einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung" erschien 2009 in einem kleinen Verlag. Namhafte Verlage hätten sich mit dem Thema schwergetan, so Lehnert.
Das heißt nicht, dass ich Weihnachten nicht feiern würde. Für mich ist es ein Fest des familiären und politischen Friedens, der Besinnung. Ich denke, das gilt inzwischen für die überwiegende Mehrheit unserer Gesellschaft.
Anders formuliert: Sie feiern Weihnachten, aber es hat für Sie keine spirituelle Bedeutung.
Auch das würde ich so nicht stehen lassen. Festtage wie diese verdeutlichen für mich, dass das Leben aus mehr besteht als der rationalen Bewältigung des Alltags. Es gibt ja Fragen, die unser Wissen übersteigen. Ich empfinde an solchen Tagen ein Bedürfnis nach Feierlichkeit, aber sie soll das Gemüt ansprechen, ohne den Verstand zu kränken. Wenn ich mir Predigten in diesen Tagen anhöre, passiert genau das.
Was stört Sie daran?
Dass den Menschen ein anrührendes Märchen ohne geschichtliche Basis aufgetischt wird. Die weltweite Verbreitung dieser "frohen Botschaft" vom erbarmenden Gott hat über die Jahrhunderte Millionen Menschen das Leben gekostet. Und trotz der Losung vom Frieden auf Erden kann ich nicht erkennen, dass der beschworene Gott auch nur eine Hand gerührt hätte, um diese Welt friedlicher zu machen.
Und darum wollen Sie kein Christ sein.
Darum, und weil ich den zentralen Glaubenssatz nicht glauben kann und will, dass Jesus für mich am Kreuz gestorben sein soll. Dieser Opfertod soll mich von meinen Sünden befreien. Das ist steinzeitliches Denken. Damals brachte man den Göttern Opfer, um sie gnädig zu stimmen, in ganz dramatischen Situationen opferte man sogar den Erstgeborenen. Heute noch so zu denken, finde ich geradezu absurd. Fällt einer allmächtigen Gottheit nichts anderes ein als eine grausame Hinrichtung, um sich mit uns zu versöhnen?
Viele Christen nehmen das vielleicht gar nicht so wörtlich.
Richtig, nach meiner Erfahrung sind die meisten Kirchgänger Traditionschristen. Sie machen mit, was sie mal gelernt haben, finden das ganz schön und sehen keinen Grund, daran etwas zu ändern. Ihr Christentum besteht aus einer allgemeinen Gottgläubigkeit und dem Wunsch, als guter Mensch zu gelten.
Religiöse Inhalte spielen gar keine echte Rolle mehr?
Wenn ich Christen nach Erbsünde, Opfertod oder Abendmahl frage, stellt sich meist heraus, dass sie darüber überhaupt noch nicht nachgedacht, geschweige denn diese Fragen zu Ende gedacht haben.
Worüber sollten sie denn einmal nachdenken?
Vor allem über den eklatanten Widerspruch zwischen dem angeblich allmächtigen und unendlich barmherzigen Gott und dem unübersehbaren menschlichen Leid. Gott, wenn er denn existieren sollte, schaut offenbar dem Leiden der Menschen, verursacht durch Naturkatastrophen, Krankheiten oder Völkermorde, tatenlos zu. Das ist die berühmte "Theodizee" - kein Theologe, kein Papst weiß eine Antwort auf diesen unauflösbaren Widerspruch. Auch die zweitausendjährige Geschichte der Kirche mit ihren zig Millionen Blut-Opfern zeigt mir, dass hinter ihrer Lehre kein barmherziger Gott stehen kann.
Schafft Religion mehr Leid als Trost?
Gerade die beiden großen monotheistischen Religionen mit ihrem Alleinvertretungsanspruch, das Christentum und der Islam, haben Millionen Menschen auf dem Gewissen. Der größte Teil aller bisherigen Kriege geht aufs Konto der Religionen. Dabei kann Religion zweifellos auch trösten. Wer glauben kann, ohne durch Gründe der Vernunft irritiert zu werden, kann Halt und Trost erfahren. Stellt man aber Trost und Leid gegenüber, wird deutlich, welch unglaublich hoher Preis dafür zu zahlen ist.
Diese Fundamentalkritik entwickeln Sie ausführlich in Ihrem Buch, das sich offenbar sehr gut verkauft. Ernten Sie dafür eigentlich Unverständnis?
Meine nächsten Angehörigen denken wie ich, einen Bruder, der Organist ist, konnte ich überzeugen, meine liebe Schwester nicht. Ansonsten habe ich zu meinem Erstaunen erfahren, dass viel mehr Kollegen an meiner FU, als ich ahnte, so denken wie ich. Kühle Ablehnung habe ich natürlich auch registrieren müssen. Andererseits habe ich die religionskritischen Kapitel meines Buches mit zwei Pfarrern ausführlich diskutiert. Einer hat mich sogar mehrere Tage in seine Familie eingeladen und geduldig mit mir gesprochen. Trotzdem sind wir nach wie vor gute Freunde.
Ist Berlin eine gottlose Stadt?
Um ein paar Zahlen zu nennen: Rund 70 Prozent der Berliner sind in keiner großen Kirche organisiert, im Osten sogar 80 Prozent. Sehr interessant ist auch eine kircheninterne Umfrage unter den evangelischen Pfarrern und Pfarrerinnen in Berlin und Brandenburg. Etwa 10 Prozent von ihnen glauben nicht mehr an Gott. Noch mehr zweifeln an der Wiederauferstehung, die wenigsten glauben an die Hölle. Davon abgesehen verstehen sich diese gottlos gewordenen Pfarrer im besten Sinne des Wortes als Seelsorger, und ich denke, dass sie da viel Gutes tun. Von dieser internen Fluchtbewegung spricht der sonst so redselige Altbischof Huber nicht.
Trotzdem sind selbst in Berlin Kirchenvertreter viel präsenter als Konfessionslose.
Weil wir ein Kirchenstaat sind!
Das müssen Sie erklären.
Der Staat hat den Kirchen in den letzten Jahrzehnten in beispielloser Weise Rechte und Mittel zugeschanzt - trotz gegenteiliger Auflagen der Verfassung. Deshalb können sie sich auch mit den Sozialleistungen von Caritas, Diakonie, konfessionellen Krankenhäusern, Kitas und Schulen schmücken. Das Geld dafür kommt aber tatsächlich zu 90 bis 98 Prozent vom Staat und den Sozialkassen. Hinzu kommt eine lange Liste von Vorrechten.
Zum Beispiel?
Die Kirchen haben ein eigenes Arbeitsrecht, das Arbeitnehmer in allen wesentlichen Fragen schlechter stellt als solche im öffentlichen Dienst oder im Privatsektor. Oder nehmen Sie die Rundfunk- und Fernsehräte. Da haben die christlichen Kirchen und die jüdische Gemeinde das Recht, sich in Weltanschauungsfragen zu äußern und über Programme zu befinden. Andere Weltanschauungen sind nicht zugelassen. Solche Privilegien tragen dazu bei, dass die Kirchen im öffentlichen Bewusstsein allgegenwärtig sind, ohne ein politisches oder irgendwie moralisch begründetes Mandat.
Der Katholizismus ist 2010 arg gebeutelt worden. Freut Sie das?
Angesichts des Leids, das zu dieser Kritik geführt hat, kann keine Freude aufkommen. Aber eines stelle ich mit Genugtuung fest: Immer mehr Menschen begreifen, dass die Rolle der Kirche als Hort und Verkünder der Moral bloße Anmaßung ist.
Ist Ihnen der Protestantismus eigentlich näher?
In den wesentlichen Punkten erkenne ich keinen Unterschied: Jesus als menschliches Opfer zur Sündentilgung, Wiederauferstehung der Toten, Ewiges Leben, Taufe, Abendmahl, Hölle für die Ungläubigen, all das ist für beide Kirchen verbindlich. Beide Lehren sind gedankliche Konstrukte, die als Wunschvorstellungen aus Not und Verzweiflung entstanden sind. Was den Protestantismus betrifft, muss man immer wieder auf die zwiespältige Rolle Luthers hinweisen. Er war ein eindrucksvoller Denker und hat der deutschen Sprache mit seiner Bibelübersetzung einen großen Dienst erwiesen. Er war aber auch ein ganz entschiedener Antisemit, der in seinem Buch "Von den Juden und ihren Lügen" das nationalsozialistische Verfolgungsprogramm bis in Einzelheiten vorwegnahm.
Das passt nicht recht ins heutige Luther-Bild.
Die evangelische Kirche sollte die Ehrlichkeit aufbringen, Luther auch mit seinen höchst fragwürdigen Seiten zu zeigen. Aber sie wird das nicht tun, es würde dem Protestantismus seinen vermeintlichen Glanz nehmen.
Kritische Christen arbeiten sich seit langem an Fragen der Ökumene und Modernisierung ab. Mit welchen Gedanken betrachten Sie diese Konflikte?
Eigentlich interessieren sie mich nicht. Ich betrachte sie allenfalls mit Schmunzeln, weil es sich um selbst erzeugte Konflikte handelt, die die Kirchen aufgrund ihrer unterschiedlichen Bibelinterpretationen haben. Sie beruhen letztlich auf bloßen Behauptungen und reiben sich daher ständig an der Wirklichkeit.
Fragen wie die nach der Gleichstellung von Frauen in der Kirche lassen sie kalt?
Diese Konflikte beweisen doch, wieweit insbesondere die katholische Kirche hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben ist. Aber das ist auch kein Wunder: Die für alle Christen verbindliche Bibel erachtet die Frau in jeder Hinsicht als weniger wert. Das drückt sich schon im 10. Gebot aus, viele Stellen des Alten Testaments zeichnen die Frau als Verführerin und Wesen mit bösartigem Charakter. Das Neue Testament ist in dieser Hinsicht nicht besser. Die wenigen Stellen, die die Rolle der Frau thematisieren, sprechen von ihrer Unterordnung.
Katrin Göring-Eckardt, Präsidentin des Evangelischen Kirchentags, sagt in der Zeit, das Abendgebet sei eine "warme Hülle", ohne das "unser Ein- und Weiterschlafen unruhig" wäre. Missgönnen Sie frommen Menschen den ruhigen Schlaf?
Also ich schlafe trotz meines Alters noch sehr gut ein - und zwar ganz ohne Abendgebet. Aber im Ernst: Warum sollte ich das tun? Frau Göring-Eckardt mag sich gern ihr sympathisch-kindliches Gemüt bewahren. Ich habe nie versucht, Menschen ihren Glauben auszureden.
Viele Menschen denken in den dunklen Tagen am Jahresende über ihr eigenes Ende nach. Und Sie? Brauchen Sie keinen Trost, dass es "danach weitergeht"?
Natürlich könnte man Menschen beneiden, die fest an ein Leben im Jenseits glauben. Aber so etwas zu erhoffen, gelingt jemandem nicht, der überzeugt ist, dass hier eine Illusion vorliegt. Ich persönlich habe mich längst mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass mein Leben irgendwann ein Ende finden wird. Der Tod als das Ende aller meiner Tage ängstigt mich daher heute kaum noch.
Sie genießen das Leben hier und jetzt?
Ich habe die Hoffnung, dass es ein langes und möglichst erfülltes Leben sein wird. Wenn dieses Leben auch noch Spuren hinterlässt, fürchte ich den Tod nicht. Angst habe ich vor einem zu frühen Tod oder quälend langem Sterben. Aber gerade für letzteren Fall haben ja humanistische Kreise den Weg zu einem menschenwürdigen Lebensende freimachen können - gegen erbitterten Widerstand der Kirchen.
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