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taz FUTURZWEI

Interview mit Henrike von Scheliha „Alle Menschen unter 30“

Kinder, Jugendliche und auch ihre Eltern sind eine immer kleiner werdende Minderheit der wahlberechtigten und immer älter werdenden Gesellschaft und politisch kaum repräsentiert. Was hilft?

Zukunft durch Partizipation: Kinder haben politisch kaum Gewicht, tragen aber die Konsequenzen Foto: dpa | Daniel Karmann

taz FUTURZWEI: Frau von Scheliha, Sie sind Rechtswissenschaftlerin und sind dabei, ein Konzept für einen Zukunftsrat zu entwickeln. Wie soll der funktionieren?

Henrike von Scheliha: Ein Zukunftsrat ist eine von mehreren Ideen, rechtlich aufzufangen, dass junge Menschen aufgrund des demografischen Wandels bereits jetzt zu einer Minderheit gehören und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung immer weiter schrumpfen wird. Unsere Ausgangslage ist die, dass die Interessen der Älteren stärker vertreten sind als die der Jungen. Bereits jetzt spielen in der öffentlichen Debatte und in den staatlichen Entscheidungen die Belange der jungen Generation keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Beispiel: Corona-Pandemie. Es kam zu einer beinahe uneingeschränkten Priorisierung der Interessen der Älteren gegenüber denen der Jüngeren. Deren Interessen waren schon bekannt, aber sie wurden wesentlich weniger stark gewichtet.

Warum ist das so?

Politiker_innen haben die aktuellen Wähler_innen im Blick und bemühen sich um deren Stimmen. Kurzfristige Wahlerfolge stehen über einer nachhaltigen Politikstrategie. Und daher kommen weder in der Debatte noch im Abwägungsprozess die Belange der Noch-nicht-Wähler_innen wirklich vor. Das ist ein strukturelles Grundproblem der repräsentativen Demokratie, dass die Gegenwart der Zukunft vorgezogen wird. Damit sind die künftigen Generationen in Gefahr, aber letztlich auch unser demokratischer Rechtsstaat. Deshalb brauchen wir meiner Ansicht nach eine Vertretung der Interessen der jungen und der künftigen Generation, einer institutionalisierten Beteiligung unmittelbar im demokratischen Prozess.

Henrike von Scheliha

ist Juniorprofessorin für Bürgerliches Recht, insbesondere Familien- und Erbrecht an der Bucerius Law School, Hamburg. Davor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Politische Repräsentation funktioniert doch nicht über Gruppen­identitäten …

Stimmt. Es ist nicht so, dass Männer nur Männerinteressen vertreten und queere Personen nur queere Interessen und so weiter, aber es ist schon so, dass die Interessen von Gruppen im Diskussions- und Entscheidungsprozess dann stärker vorkommen, wenn sie auch in Diskussions- und Entscheidungsgremien mitwirken. Klar, die Interessen von jungen Menschen sind genauso wenig homogen wie die von alten Menschen, von Frauen oder People of Colour. Aber es gibt innerhalb der Gruppe dann doch jedenfalls ein gemeinsames Interesse, etwa das, nicht diskriminiert zu werden. Bei der jungen Generation ist es das Interesse, in dreißig, vierzig Jahren noch leben zu können und die Grundlagen dafür 
– Natur, Infrastruktur, Geld – zur Verfügung zu haben. Wenn sich alte Menschen für junge Menschen einsetzen, dann ist das in der Debatte und Entscheidung genauso wenig dasselbe, wie wenn sich Männer für Frauen einsetzen. Prozedurale Generationengerechtigkeit, also die Gewährleistung, dass alle Generationen in gleicher Weise ihre Belange in den Entscheidungsprozess einfließen lassen können, könnte die Stellschraube für materielle Generationengerechtigkeit sein.

Wer ist in so einem Zukunftsrat vertreten?

Die Interessen der jungen Generation können am besten durch junge Menschen selbst vertreten werden, meiner Konzeption nach gehören zu dieser Generation alle Menschen unter dreißig. Meiner Auffassung nach müssten die Mitglieder – zumindest mittelbar – demokratisch legitimiert sein.

Was genau heißt „prozedurale“ und was „materielle Generationengerechtigkeit“?

Mit prozeduraler Gerechtigkeit meine ich, dass die junge, die künftige Generation als Kollektiv eine Stimme im Diskussions- und Abstimmungsprozess bekommt. Für mehr ­materielle Generationengerechtigkeit in der Zukunft. Materielle Gerechtigkeit betrifft die inhaltlichen Fragen: natürliche Ressourcen, Geld, Infrastruktur, medizinische Versorgung und so weiter.

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Wie ist die rechtliche Begründung für Generationengerechtigkeit?

Im Grundgesetz gibt es kein Individualgrundrecht auf zukunftsbezogene Gerechtigkeit, aber es findet sich an mehreren Stellen ein Zukunftsbezug. Zum Beispiel in Artikel 20a wird die Verantwortung des Staates gegenüber künftigen Generationen genannt. Das ist aber eine Staatszielbestimmung, kein einklagbares subjektives Recht. Auch im Europa- und Völkerrecht, gerade im Klima- und Umweltbereich spielt der Gedanke intergenerationeller Solidarität eine Rolle.

Das klingt sehr vage.

Ja, aber mithilfe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisiert es sich zum Glück etwas. Das Bundesverfassungsgericht sieht inzwischen in einigen Bereichen die Notwendigkeit, die Interessen der künftigen Generationen zu schützen. Bestes Beispiel ist der Klimabeschluss von 2021. Da hat das Gericht aus den Freiheitsrechten in ihrer Gesamtheit eine staatliche Pflicht zu materieller Generationengerechtigkeit abgeleitet, der Staat hat für eine Sicherung grundrechtlich geschützter Freiheiten über die Zeit zu sorgen. Zweites Beispiel ist der Beschluss zu den Schulschließungen. Da leitete das Gericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Kinder das Recht auf Zugang zu staatlichen Bildungseinrichtungen und den Anspruch auf einen für die Chancengleichheit unverzichtbaren Mindeststandard von Bildungsangeboten ab. Es hielt fest, dass die Belange von Kindern als Kollektiv bedeutsam sind, dass an ihrer Entwicklung ihre individuelle Zukunft, aber auch die Zukunft unserer demokratischen Gemeinschaft hängt. Drittes Beispiel ist die Entscheidung von 2023 zum Nachtragshaushalt.

Der wurde für verfassungswidrig erklärt.

Auch der Entscheidung liegt der Gedanke Generationengerechtigkeit zugrunde. Unabhängig davon, was man vom Inhalt der Entscheidung hält, geht aus ihr meiner Ansicht nach etwas wichtiges hervor: Sowohl das Ziel, die zu große finanzielle Belastung künftiger Generationen zu verhindern – Schuldenbremse ja –, als auch das Ziel, heute Geld für Schulen, Schienennetze, alternative Energieversorgung für künftige Versorgung auszugeben – Schuldenbremse nein –, lässt sich mit der Erhaltung von Freiheiten in der Zukunft rechtfertigen. Die Abwägung und die Beantwortung der Frage, was am Ende generationengerecht ist, erfolgt durch den Gesetzgeber, nicht durch das ­Bundesverfassungsgericht, ­außer, es werden künftige Freiheiten so sehr beschränkt, dass man heute von einer eingriffsähnlichen Vorwirkung sprechen kann. Und das ist für mich auch ein wichtiger Gedanke.

Inwiefern?

Wenn materielle Generationengerechtigkeit durch den Gesetzgeber konturiert wird, dann liegt der Schlüssel im Gesetzgebungsprozess, und daran ist die junge und künftige Generation nicht beteiligt. Es braucht also prozedurale Generationengerechtigkeit zur Herstellung von materieller Generationengerechtigkeit, das ist meine These.

Welche Rechte hätte der Zukunftsrat und welche Pflichten ergeben sich daraus für die Gesetzgebung?

Effektiv wirken kann der Zukunftsrat nur, wenn er in das Gesetzgebungsverfahren einbezogen wird, und zwar in Gestalt einer obligatorischen Anhörung beziehungsweise einer Stellungnahme. Bei nicht eindeutigen Fragen wie etwa bei der Staatsverschuldung würde er zum Beispiel einen Definitionsvorschlag machen, was aus Sicht der künftigen Generation generationengerecht erscheint. Er hätte aber Initiativ- oder Vetorecht, Stichwort: Demokratieprinzip. Der Gesetzgeber müsste die Empfehlungen des Zukunftsrates also nicht befolgen, aber hätte die Pflicht, zu begründen, wenn er hiervon abweicht.

Bringt das denn dann wirklich was?

Ich denke schon. Mit der Befassungs- und Begründungspflicht würden die Entscheidungsträger_innen institutionalisiert zur Auseinandersetzung mit den Folgen für die Zukunft gezwungen. Das erscheint mir ein ganz wichtiger Fortschritt.

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