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■ In der britischen Politik werden die Karten neu gemischtDer süße Duft der Rebellion

Die westenglische Kleinstadt Hereford, inmitten grüner Täler an der Grenze zu Wales gelegen, hat traditionell drei Sehenswürdigkeiten. Eine alte Kathedrale dominiert das Zentrum. Am Stadtrand flußabwärts stehen die Bulmer- Werke, nach eigenen Angaben die größte Cider-Fabrik des Landes. Und am anderen Stadtrand liegt die Kaserne des „Special Air Service“ (SAS), der berühmten Spezialeinheit des britischen Militärs.

Die SAS ist der Stolz der Stadt. Zahllose Kommandooperationen gegen Staatsfeinde im In- und Ausland brachten ihr einen legendären Ruf und eine sehr englische Art der Heldenverehrung: eine Truppe harter Männer, die durch die Kombination von Selbstaufgabe und Eigenverantwortung ihren Beitrag dazu leistet, die britische Krone happy and glorious zu halten. Wenn Hereforder Schuljungen vom großen Leben träumten, mischte sich James-Bond-Romantik mit dem Glamour der SAS. Als die Kaserne während des Falkland-Krieges 1982 ungefähr 20 Tote zu beklagen hatte, beschwor zwischen den neunhundertjährigen Säulen der Kathedrale ein fülliger Priester mit donnerndem Ingrimm die alten Werte des Empire: Dulce et decorum est pro patria mori – es ist süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben. Auch politisch schien die Stadt der Vergangenheit verhaftet. Die Labour- Partei konnte froh sein, bei Wahlen auf fünf Prozent zu kommen; das politische Leben spielte sich zwischen ländlichen Tories und städtisch-bürgerlichen Liberalen ab.

Von diesem Weltbild aus betrachtet, befindet sich Großbritannien heute auf dem schnurgeraden Weg in den Untergang. Das teuflische Europa reglementiert die bewährten englischen Äpfel und Rinder. Und der SAS-Zögling Michael Rose macht sich als zahnloser Blauhelmkommandeur in Bosnien lächerlich. Sogar das „Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland“ wird in Frage gestellt – und das alles unter einer konservativen Regierung.

Noch nie, schrieb kürzlich die altkonservative Tageszeitung Daily Telegraph, war die englische Kultur so dauerhaften Angriffen von innen ausgesetzt wie heute. Ein tiefer Graben spaltet die britische Politik. Welten trennen die Traditionalisten der grünen Täler von den Modernisierern der pulsierenden Finanzzentren. Und der Graben verläuft mitten durch die konservative Partei: Die neun EU- feindlichen Abgeordneten, die im November aus der Fraktion ausgeschlossen wurden, machen genüßlich Politik auf eigene Faust, so daß Premierminister John Major ohne parlamentarische Mehrheit dasteht. Die nordirischen Protestanten, bisher der Regierungspartei in Treue verbunden, bereiten sich öffentlich auf Neuwahlen vor, von denen jeder weiß, daß Labour sie gewinnen würde.

Ein Hauch von Königssturz liegt in der Luft, und die Frontlinie ist klar: Die Verteidiger des alten insularen Großbritannien rüsten zum letzten Gefecht, und es ist ihnen egal, ob ihr Gegner John Major oder Tony Blair heißt. Dagegen wird der Unterschied zwischen der reformierten Labour-Partei und den linkskonservativen „Europhilen“ – schon das Wort hat ja einen unanständigen Beigeschmack – immer undeutlicher.

Damit ist eine jahrhundertealte Trennungslinie wiederhergestellt, die nach dem Aufkommen des Massenwahlrechts und der Arbeiterbewegung zeitweilig verschüttet war. Traditionell beherrschte die Rivalität zwischen Liberalen und Konservativen die englische Politik; diese wiederum entstammte der Demarkationslinie zwischen Whigs und Tories, deren Ursprung bis zu den Thronfolgestreitereien des 17. Jahrhunderts zurückreicht. Tories – die späteren Konservativen – verteidigten damals die Erbfolge und danach die Interessen von Landherren und Kirche; während der imperialen Expansion vertraten sie zumeist einen Rückzug auf das englische Idyll, ohne Verwicklung in ausländische Händel. Whigs – nachmals Liberale – waren diejenigen, die die Erbfolge brechen wollten; später sammelten sie die Industrialisierer und Eroberer des achtzehnten und die Menschenverbesserer und Reformer des neunzehnten Jahrhunderts.

Als ob seitdem nichts gewesen wäre, wird Großbritannien heute von Whigs regiert, während eine rückwärtsgewandte Tory-Opposition den Wandel bekämpft. Mit den historischen Parteiformationen hat das wenig zu tun: Vielmehr umfaßt der Begriff Tory heute sowohl die konservative Rechte wie auch Teile der grün angehauchten sozialen Protestbewegungen, während Whig die anerkannte politische Klasse von linken Konservativen bis hin zum Zentrum der Labour-Partei vereint.

Daß diese alte Konstellation jetzt neu entsteht, ist weniger dem innerkonservativen Streit selbst zu verdanken als der Mutation der Labour-Partei. Drei Generationen lang wollte Labour als treibende Kraft außerhalb des gemütlichen Zweiparteiensystems Großbritannien revolutionieren, und so setzte sie den Whig-Tory-Dualismus außer Kraft. Seit fünfzehn Jahren aber drängt jede Wahlniederlage sie stärker dazu, diesen Platz im Regen zu verlassen und ins Establishment heimzukehren. Labours neue Identität unter Blair ist ja gerade die Verweigerung der eigenen Identität, die man als gescheitert verworfen hat. Man will besser machen, was die Regierung schlecht angeht. Und solange die Konservativen schlecht regieren, hat Labour damit gute Chancen.

Daher riskiert Major den Machtverlust, wenn er sich auf eine vorwärtsgewandte Politik festlegt. Denn die Gegner dazu sitzen nicht auf den Oppositionsbänken, sondern in der eigenen Partei. Warum sollte dann nicht gleich Labour auf die Regierungsbank wechseln? Einen Gegenpol zu Labours sehr whig-mäßigen Reformprojekten könnten die Konservativen nur finden, indem sie sich in die ganz alte Tory-Ecke begeben: Kein Antasten der Machtbereiche, Traditionen und Rechte der Krone! Keine Verschmelzung mit Europa! Kein frischer Wind ins Establishment! Sollte Major sich in solche Schlachtrufe flüchten, mag er seine Partei zusammenhalten – er schickt sie aber erst recht ins politische Aus. Denn die traditionelle Tory-Kultur, so elitär sie sich auch gibt, ist eine Protestkultur, die von der Abwehr des Neuen lebt. Regieren kann man mit ihr nicht.

Solange dieser Zustand andauert, so lange schwindet die Wahrscheinlichkeit, daß die Konservative Partei und damit die gesamte Parteienlandschaft in ihrer jetzigen Form überlebt. Es ist in diesem Zusammenhang treffend, daß die Begriffe Tory und Whig selbst im Laufe der Jahrhunderte grundlegende Bedeutungsveränderungen durchgemacht haben. Vor der politischen Inanspruchnahme des Begriffes war ein Whig ein Pferdedieb. Tories nannte man irisch-katholische Rebellen; der Bedeutungswandel dieses Wortes im 17. Jahrhundert lag darin begründet, daß der damalige Erbstreit vom Recht katholischer Königssöhne auf die Thronfolge handelte.

Wie ungern mögen sich daran jene daran erinnern, die heute im Namen des „Ausverkaufs“ von Großbritannien an irische „Papisten“ und europäische „Bürokraten“ Majors Sturz vorbereiten. Dominic Johnson

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