In der Urmutter aller Ämter

Die Behörde als Bühne: Das Bremer Finanzamt steht Kopf. Im Inneren des Haus des Reichs rumort Kafka. In „Anlage K“ durfte sich die freie Szene auf 18.500 Quadratmetern austoben – was allerdings etliche zu viel waren. Manchmal bleibt der Raum gewaltig leer

Die Steuererklärung soll auf einen Bierdeckel passen? Papperlapapp. Wer das Bremer Finanzamt betritt, dem können solch populistische Forderungen nur höchst unpassend vorkommen. Form follows form, und diesbezüglich setzt der 1929 als Zentrale der Norddeutschen Wollkämmerei gebaute Art Déco-Palast nunmal Maßstäbe. „Im gesamten norddeutschen Raum wird er von kaum einem vergleichbaren Verwaltungsbau seiner Epoche übertroffen“, hält eine aktuelle Expertise fest. Jetzt sind die 18.500 Quadratmeter Nutzfläche auch als Bühne erlebbar.

Allerdings nur für die Pünktlichen. Wer um 20 Uhr an der tonnenschweren Tür des Hintereingangs rüttelt, erntet mitleidige Blicke von streberhaften Nutzern des Nachtbriefkastens. „Meinen Sie wirklich, das Finanzamt hat Samstag abends geöffnet?!“ Doch, doch, da drinnen tobt jetzt „Anlage K“, eine „Live Art-Performance“ der freien Szene, ins Rollen gekommen in der projektlustigen Zeit der Bremer Bewerbung als „Kulturhauptstadt Europas“. Den Titel hat jetzt Essen, Bremen immerhin ein auf den Kopf gestelltes Finanzamt. Beim Abgeben ihrer Steuererklärung kam Katrin Bretschneider die Idee, hier etwas Assoziatives zu Kafkas Romanfragment „Das Schloss“ zu inszenieren.

Wie weiland Landvermesser K. guckt man nun also desorientiert auf die verschlossene Fassade. Irgendwann erscheint ein russischer Pförtner, wiegt das Haupt, wägt ab, hält Rücksprachen. Perfekt kafkaesk, nur dass man dann tatsächlich in‘s Innere kommt, in den Maschinenraum. Und dort ist man völlig platt. Was die Gebrüder Gildemeister da als Zentrale der Haustechnik hingebaut haben, ist mindestens „Metropolis“-inspiriert, es könnte auch als Kommandobrücke eines Raumschiffs älteren Baujahrs durchgehen. „Dann werde ich endlich Teil von etwas – das System ist so schön“, erklärt gerade eine Schauspielerin mit Tiermaske.

Von der Decke baumeln Energiesparbirnen in nackten Fassungen, eine gestalterische Zutat des derzeitigen Finanzsenators. Schon geht es weiter, kichernde Mischwesen geleiten das Publikum durch die Gänge. Etliche scheinen zur 1.500 Menschen umfassenden Belegschaft des Hauses zu gehören, jetzt staunen sie über dessen Verwandlung. Andere haben das übliche „Alles-von-unseren-Steuern“ auf den Lippen, angesichts der Makassar-Ebenholz-Vertäfelungen schöpft das Lamento wenigstens aus dem Vollen. Eben inszeniert Nomena Struß den Aufstieg zur goldmosaikenen Kuppel eines der rückwärtigen Treppenhäuser. Ein Erkenntnispfad auf nummerierten Stufen, natürlich ziellos, ganz wie das literarische Irren des K. um‘s Schloss.

In den – selbst hier! – öden Endlosfluren der Normalbeamten beruhigen sich die steuerzahlenden Gemüter. Dafür drehen die SchauspielerInnen auf: Drei Büros werden zur dauermobilen Installation, Marco Jodes tanzt mit dem Aktenschrank und Alessandra Corti verschwindet im Papierkorb. Die Gruppe hat einen Sack voll Ideen, gereiht in gewisser Unvermitteltheit – aber welcher rote Faden würde auch reichen, um sinnvolle Wege durch solch ein vorbildloses Haus voller verspielt-funktionaler Expressionismen zu finden?

Stattdessen also Fragmente unterschiedlicher Güte. Als brauchbares Spielelement erweisen sich die vierflügeligen Drehtüren, die in allen Tempovariationen ihren Charme entfalten, während die künstlerische Nutzung der Paternoster eher verschenkt wirkt. Vorbeifahrende Bilder, gut und schön, aber für eine veritable vertikale Galerie bedarf es eindrücklicherer Einzelideen.

„Immer, wenn man anruft, ist Frau Müller zu Tisch“, ruft Christoph Glaubacker im Vorbeigehen. Aus der Anleitung zum Ausfüllen der Einkommenssteuererklärung lässt sich auch immer trefflich zitieren, ein starker Moment entsteht, als plötzlich Kafkas Schnee herunterrieselt.

Manche architektonischen Leckerlis wie das „Frühstückszimmer“ der Nordwolle-Direktoren – die von hier aus Europas größten Garnproduzenten dirigierten – mit dem beheizbaren Speiseaufzug bleiben in der Performance außen vor – insgesamt jedoch zeigt sich der Hausherr bemerkenswert gastfreundlich. Das Öffnen der Räume biete „die seltene Gelegenheit, junge Künstler ohne besonderen Aufwand zu unterstützen“, erklärt der vor Ort sonst nicht sehr beliebte Finanzsenator zufrieden.

Dann, vor der Chef-Suite, beginnt das – leider fürchterliche – Finale. Rollschuhe von links, Kreischen rechts, Keyboard da: Die Truppe schmeißt noch mal alles zusammen, womit man einen solchen Raum versuchen kann zu füllen. Er bleibt gewaltig leer. Zum Glück folgt ein Epilog in bewährter Drehtür-Poesie. Raus aus dem Amt, mit Lust an die Lohnsteuer. HENNING BLEYL

„Anlage K“ am Bremer Rudolf-Hilferding-Platz 1. Regie: Katrin Bretschneider, Günther Grollitsch. 18./19./25. 11. um 19.30 (!) Uhr, am 17./24. und 26. 11. um 20 Uhr. ☎ 0421/70 01 41