In der Sonderzone

Wo die wilden Kerle schuften: „Rummelplatz“ von Werner Bräunig ist ein wilder, berstender Roman aus der DDR – der erst jetzt erscheinen konnte

Die Stärken dieses Erzählens: Dominanz des Details, Material vor Reflexion, Realität vor Utopie

VON STEFAN MAHLKE

Hat Werner Bräunig einfach nur Pech gehabt? Ein Kapitel seines Romans „Rummelplatz“ wird ausgerechnet am Vorabend des berüchtigten 11. Plenums des ZK der SED im Jahre 1965 abgedruckt. Das kommt der Partei gerade recht: Ein Exempel wird statuiert. Auch Christa Wolfs entschiedene Verteidigungsrede kann den Roman nicht retten. Bräunig versucht noch zu überarbeiten, entschärft auch einige inkriminierte Stellen, lässt die Arbeit aber dann liegen: Ein druckfähiges Manuskript – seine Geschichte ist im ausführlichen Anhang von Angela Drescher dokumentiert – wäre ein verstümmeltes, nicht mehr seins. Dem Trinken eh nicht abgeneigt, verfällt Bräunig darüber mehr und mehr dem Alkohol und stirbt 1976 im Alter von 42 Jahren.

Nein, das war nicht nur Pech. Dieser Roman hätte in der DDR nie erscheinen können – „weil er die Realität beschrieb“ (Heiner Müller). Es ist eine Realität, die der Autor selbst erfahren hat. Bräunigs frühe Jahre muten an, als wollte er die Welt zum Rummelplatz machen. Schon als Elfjährigen treibt es ihn auf die Straße, weg von den Eltern, „hin zu den Rudeln heimatloser Halbwüchsiger“, wie er selbst schreibt. Auch später lässt er kaum etwas aus: nicht abgeschlossene Schlosserlehre, Schwarzhandel, Fördermann in der Wismut, Schmuggelreisen nach Westberlin, Gefängnis, Arbeit in eine Papierfabrik, Volkskorrespondent, FDJ, GST, 1958 Eintritt in die SED, Studium am Institut für Literatur Johannes R. Becher, später selbst Lehrer dort. Diese Biografie ist Provokation und Aufstiegsgeschichte zugleich. Sie ist Material für „Rummelplatz“, und wäre das Wort nicht so vertrackt, man würde den nun endlich veröffentlichten Roman authentisch nennen.

Schauplatz der Handlung ist vor allem die Wismut, ein Gebiet, benannt nach der Wismut AG, von den Russen 1947 gegründet, um die Uranvorkommen im Erzgebirge für den Bau der Atombombe auszubeuten. Als größtes Reparationsunternehmen des 20. Jahrhunderts war sie Sonderzone, abgesperrtes Gebiet. Schwerste Plackerei herrschte unter Tage – „Prometheus war an den Felsen geschmiedet. Sisyphus wälzte den Stein bergauf. Es hatte sich nichts geändert“, wie es im Roman heißt. Dafür weit höhere Löhne und Prämien als anderswo. Unterkunft in Baracken, das Geld schnell verdient und schnell ausgegeben. Die Wismut: der Ort, wo die wilden Kerle schufteten, „Klein-Texas“, „Deutsch-Wildwest“, die Wismut der „Staat im Staate und ihr Nationalgetränk der Wodka“.

Diese Landschaft bevölkern viele Figuren, vier von ihnen sind die Protagonisten, ihre Spur wird immer wieder aufgenommen. Eingeführt wird der Leser von Hermann Fischer. Steiger, seit den 20er-Jahren in der KPD, unter den Nazis sechs Jahre im Lager, ist er die Figur des erfahrenen Genossen, der nicht den Kontakt zur Masse verloren hat, von der Partei in die Wismut geschickt, um die Neuen im Bergwerk zu führen. Fischers herbe Tochter Ruth versucht ihren Weg in der benachbarten Papierfabrik zu gehen, von der Hilfsarbeiterin zur Maschinenführerin. Schließlich Christian Kleinschmidt, Professorensohn und deshalb dazu verdammt, sich in der Produktion zwei Jahre zu „bewähren“, bevor die Arbeiterklasse ihn studieren lässt.

Im mühevollen Aufstieg Ruth Fischers und in der Bewährung Kleinschmidts tritt ein Heroismus der Arbeit zutage: als fast organische Einswerdung mit dem Berg (in der Perspektive Kleinschmidts sehr eindrücklich vorgeführt) wie auch als Möglichkeit, aus Rollenmustern auszubrechen. Dieser Heroismus ist zugleich gebrochen: Kleinschmidt weiß, dass er nie zur Arbeiterklasse dazugehören wird, ihr Ton ist ein anderer, er wird ihn nie ganz treffen.

Entspricht das Buch in dieser Konstruktion durchaus dem Schema des sozialistischen Entwicklungsromans, bekommt es mit der Figur des Peter Loose einen Drive, der die eingezogenen Stützbalken der Utopie anfrisst. Wenn der intellektuelle Kleinschmidt Bräunigs eines Alter Ego ist, ist Loose das andere – und ihm gehört die Liebe des Autors. Loose ist der Abenteurer, der die Normüberbietung als Sport begreift. Er ist der Saufaus und Radaubruder, einer, der es auch mit dreien aufnimmt, wenn einer Kellnerin an die Wäsche gegangen wird, Loose, der Rekordhalter im Luftschaukeln mit 22 Überschlägen, Loose, einer der Lost Generation, „die hat schon wirklich danebengegriffen auf der Sitzbrille des Lebens“, ohne Oberschule und Berufsabschluss, und hat im Westen nur eine Schwester, verheiratet mit einem armen Nähmaschinenfritzen, „beschissen ist geprahlt“.

Peter Loose ist die Figur, mit der sich das Milieu ausbreiten lässt – mit all den Stärken des Erzählens: Dominanz des Details, Material vor Reflexion, Realität vor Utopie. Der Schacht wie die Kneipe, das Kipperfahren wie der Rummelplatz sind seine Spielfelder. Und die Technik des inneren Monologs – Bräunig verwendet sie für alle Figuren – wird bei Loose virtuos gebraucht, indem sie eng an die Handlung geknüpft bleibt. Grandios die Darstellung, wie Loose die Kipperfahrten zum Wettrennen macht. Oder die Essfantasien im Knast, wo er vier Jahre absitzen muss, nachdem er in eine Schlägerei mit der Volkspolizei geraten war. Da ist der Roman schon lange kein Wismut-Roman mehr, sondern Entfaltung einer plebejischen Ebene, die die „Aufhebung“ ins große Ganze, in die Verheißung einer besseren Welt storniert. Auch die vielfach eingesetzten Zitate der Weltliteratur (Shakespeare, Goethe, Schiller, Brecht, immer wieder die Bibel) sind keineswegs Bildungshuberei. Vielmehr statten sie die Figuren mit Wortwitz und Wortgewalt aus, gegen die immer gleichen Losungen der Partei.

Dass die Handlungsausflüge in den Westen Deutschlands angepappt wirken, bleibt angesichts all dessen verschmerzbar.

Werner Bräunig: „Rummelplatz“. Aufbau-Verlag, Berlin 2007, 768 Seiten, 24,95 Euro