In Zeiten der Seitenwende : Als taz den Medienwandel gegen den Strich bürsten
Wie die linke Gegenstimme den digitalen Wandel nutzt, ohne ihre Gründungsidee aufzugeben. Praktische Vorschläge eines Professors für Digitaljournalismus.

Aus der taz | Am 17. April 1979 wird die taz gegründet. Als linke, unabhängige Gegenstimme zur etablierten Presselandschaft – nicht als Selbstzweck, sondern um in die Gesellschaft einzugreifen und bis dahin medial nicht wahrgenommenen Stimmen ein Forum zu geben.
Heute, mehr als vier Jahrzehnte später und mitten im digitalen Umbruch, stellt sich abermals die Frage: Wie muss sich diese linke Stimme künftig organisieren, wenn die Papierform der Zeitung zumindest werktäglich verschwindet?
Auf welche medialen Entwicklungen muss sie reagieren, um auch morgen noch ihre selbst gesetzte Aufgabe zu erfüllen? Und kann sie dabei weiterhin ein Gegenmodell zu den dominanten ökonomischen Entwicklungen der Medienbranche sein?
Mit dem Projekt „Seitenwende“, der Umstellung der werktäglichen papiernen Variante auf eine digitale sowie eine am Samstag weiterhin hybrid erscheinende Wochenzeitung im Herbst 2025, sind bereits pionierhaft wichtige Weichen für die Zukunft gestellt. Doch an diesem Punkt wird die Transformation nicht stehenbleiben können.
Gründungsidee der taz für die Zukunft nutzen
Mein Kollege Bernd Blöbaum von der Universität Münster hat in seiner jahrzehntelangen Forschung zur taz gezeigt, wie diese sich der gedruckten Tageszeitung als Medium bemächtigte, indem sie ihre Strukturmuster – etwa die klassische Ressorteinteilung, gängige Textsorten oder das vertraute Layout – adaptierte, aber zugleich subversiv umdeutete.
Auch heute kann sich die taz nicht einfach von den Realitäten des Journalismus abwenden. Sie kann diese aber auch nicht eins zu eins in ihr eigenes Tun übersetzen, ohne ihren emanzipatorischen Anspruch einzubüßen.
In der Tradition der taz liegt die Chance, auch heute wieder ein offenes Forum für journalistische Experimente und ein Raum für alternative Entwürfe von Medien und Öffentlichkeit zu sein.
Wie das gelingen kann, lässt sich entlang von drei Schlüsselentwicklungen skizzieren, die den Journalismus im digitalen Wandel prägen: die Plattformisierung seiner Distribution, die Vernischung seiner Inhalte und der Aufstieg von Personenmarken.
Es geht darum, sich diesen medialen Entwicklungen zu stellen, sie dabei aber – ganz im Sinne der eigenen Geschichte – gegen den Strich zu bürsten.
Plattformisierung: Wie der Verbund gegen Big Tech helfen könnte
Im digitalen Zeitalter ist den Verlagen zunehmend die Kontrolle über die Distribution ihrer Inhalte entglitten. Nachrichten-Aggregatoren wie Google, soziale Netzwerke und generative KI-Anwendungen schieben sich als Gatekeeper zwischen Produzierende und Nutzende.
Die Folge: Eine „Plattformisierung“ des Journalismus, die das Mediennutzungsverhalten nachhaltig verändert. Der Versuch, die Funktionslogik dieser Plattformen zu imitieren, wäre aussichtslos – die Akteur:innen des Plattformkapitalismus verfügen über ein Vielfaches an Finanzmitteln, Daten und Know-how.
Und doch bestehen gerade in engagierten Milieus wie dem der taz Chancen, digitale Souveränität zurückzugewinnen – etwa indem etablierte Plattformlogiken und -algorithmen „gehackt“ werden.
Virale Inhalte, Clickbaiting oder Hashtags werden dabei bewusst zweckentfremdet, um gezielt kritische Perspektiven einzuschleusen, ähnlich wie einst die Strukturmerkmale der gedruckten Zeitung.
Eine weiterführende Perspektive könnte in Kooperationen mit progressiven Tech-Kollektiven oder genossenschaftlich organisierten Plattformen, verstanden im Sinne des „Platform Cooperativism“, liegen.
Unabhängige und dezentral betriebene soziale Netzwerke wie Mastodon oder PeerTube schließen sich im sogenannten Fediverse zusammen und etablieren gemeinsam offene Standards. Erst jüngst hat ein Gutachten im Auftrag des ZDF-Verwaltungsrates vorgeschlagen, auch öffentlich-rechtliche Medien sollten sich hier stärker auf alternative Plattformen verlegen.
Langfristig könnte die taz damit Teil einer Allianz gemeinwohlorientierter Medien – eventuell auch auf gesamteuropäischer Ebene – sein, die eine „Gegenplattform“ zu Big Tech vorantreiben.
Vernischung: Wie kommt man von der Nische in die Breite?
Journalismus erschließt gegenwärtig dort neue Marktpotenziale, wo er klar umrissene Zielgruppen mit relevanten, tiefgehenden Inhalten anspricht. Formate wie Politico, SZ Dossier, Table.Media oder Tagesspiegel Background zeigen, wie sogenannter Deep Journalism funktioniert.
Sie liefern hochspezialisierte Informationen an Interessengruppen und Entscheider:innen der Spitzenklasse aus Wirtschaft, Verwaltung oder Politik – mit hoher Zahlungsbereitschaft für Inhalte, die oft akut berufsrelevant sind und die sonst niemand bereitstellt, auch keine KI-Anwendung.
Deep Journalism ist Ausdruck dessen, was der Soziologe Andreas Reckwitz als „Krise des Allgemeinen“ beschreibt: eine Vernischung hin zu segmentierten Zielgruppen mit spezifischen Interessen.
Die FAZ etwa setzt mit ihren PRO-Angeboten auf Banker:innen und Jurist:innen. Wie sähe eine „tazzige“ Vertikalisierung aus? Auch sie kann diesen Weg mit ihrer eigenen Prägung weiterdenken.
Zielgruppenspezifische Zugänge, etwa Podcasts für junge Arbeitnehmer:innen, tiefgehende Dossiers für politisch aktive Gewerkschafter:innen oder Betriebsräte, könnten neue Segmente erschließen. Gerade Themen wie Arbeitnehmerrechte, Netzpolitik oder Nachhaltigkeit bieten der taz das Potenzial, ausgehend von milieuspezifischen Interessen gesamtgesellschaftliche Relevanz zu entfalten.
Dabei wäre es jedoch gefährlich, würde die taz die voranschreitende Atomisierung der Öffentlichkeit durch eine allzu enge Zielgruppenansprache noch weiter vorantreiben. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, Nutzer:innen geschickt aus der Nische in die Breite zu leiten.
Personenmarken: Welche Sichtbarkeitsstrategie funktioniert?
Die Mediennutzung vor allem jüngerer Menschen wird zunehmend von Einzelpersonen wie Content Creator:innen, Influencer:innen und anderen Medienschaffenden geprägt. Einzelne Gesichter prägen den Zugang zu Information stärker als Organisationen, wie der Reuters Digital News Report für junge Zielgruppen belegt.
Für eine kollektivistische Marke wie die taz ist das ambivalent.
Einerseits darf sie nicht in die neoliberalen Selbstvermarktungslogiken von Influencer:innen abrutschen, wie sie Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt in ihrem Buch „Influencer. Die Ideologie der Werbekörper“ beschrieben haben.
Andererseits stellt sich die Frage: Wie können einzelne Stimmen strategisch gestärkt werden, ohne den redaktionellen Gesamtanspruch zu unterminieren?
Eine Möglichkeit wären kollektive Creator-Modelle: Redakteur:innen agieren sichtbar, aber als Teil eines Teams oder Netzwerks.Sichtbarkeit wird bewusst eingesetzt, um kritische und alternative Perspektiven zu fördern und nicht, um Einzelfiguren zu vermarkten.
Gleichzeitig könnten gezielte Sichtbarkeitsstrategien, etwa bei Kolumnist:innen oder Themen-Expert:innen, helfen, linke Stimmen in progressiven Diskursen stärker zu verankern, ohne in Selbstvermarktung abzudriften.
Im Kern steht die Frage: Wo liegt künftig die Markenstärke der taz – auf Ebene der Medienmarke oder auch in den Personenmarken ihrer Journalist:innen?
Ausblick: Umwälzungen traditionsbewusst umdeuten
Die taz kann sich nicht unreflektiert in die plattformkapitalistische Umwälzung des Journalismus einreihen, nicht die Atomisierung der Öffentlichkeit weiter befeuern und sich auch nicht auf die marktförmige Selbstzurschaustellung von Einzelpersonen einlassen. Doch ebenso wenig kann sie sich den Schlüsselentwicklungen des Journalismus gänzlich verschließen.
Vielversprechender scheint es, diese Entwicklungen produktiv im Sinne der eigenen Tradition umzuwenden. Das hieße:
Plattformen nutzen, aber im selben Moment unterwandern.
Vertikalisieren, aber zugleich von der Nische in die Breite führen.
Sichtbar machen, ohne in Selbstvermarktungslogiken zu verfallen.
So könnte die taz auch im digitalen Wandel die kritische, linke Stimme bleiben, die sie in den mehr als vierzig Jahren seit ihrer Gründung immer war.