■ In Bosnien wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet: Überwintern und einfrieren
Die Menschen in Sarajevo haben längst aufgehört zu zählen. Zwischen zwei und drei Dutzend Feuerpausen und Waffenstillstände sind in Bosnien-Herzegowina abgeschlossen und gebrochen worden. Trotzdem könnte es diesmal anders sein. Es spricht einiges dafür, daß die am Silvester ausgehandelte Waffenruhe mehr und länger respektiert wird als üblich, wenn auch kaum, wie abgemacht, vier Monate lang.
Der Optimismus ist in der Interessenlage beider Seiten begründet. Die bosnische Regierung hat ihre Hoffnung auf eine Aufhebung des Waffenembargos aufgegeben. Sie hat zur Kenntnis genommen, daß die UNO trotz Splitter- und Napalmbomben auf Bihać, trotz der Geiselnahme von Hunderten ihrer Blauhelme nicht bereit ist, ihre Schutzzonen zu schützen. Sie weiß inzwischen, daß die internationale Gemeinschaft nicht willens ist, die humanitäre Versorgung der Bevölkerung notfalls militärisch zu erzwingen. Über einen Monat lang war jüngst der Flughafen von Sarajevo geschlossen, über den 80 Prozent der Hilfe für die Bevölkerung der Hauptstadt geliefert werden. Nicht mal ein Zehntel der vorgesehenen Hilfskonvois wurden im vergangenen Jahr nach Bihać durchgelassen. So verspricht sich die bosnische Regierung vom neuesten Abkommen, daß sie das Los der Menschen in Sarajevo, Bihać und den ostbosnischen Enklaven, deren materielle Ressourcen und psychische Reserven erschöpft sind, wenigstens erleichtern kann.
Die Führung der bosnischen Serben ihrerseits hat bei einem Waffenstillstand nichts zu verlieren. Im Gegenteil. Sie hofft offenbar, daß mit dem Einfrieren der Fronten und der Stationierung von Blauhelmen als Puffer ihre militärische Beute abgesichert wird. Die Serben Kroatiens haben es schließlich vorexerziert. Seit drei Jahren schon müßte nach dem sogenannten Vance-Plan die Krajina der Hoheit Zagrebs unterstellt werden. Doch nichts ist geschehen.
Das Carter-Abkommen, das zum jetzigen Waffenstillstand geführt hat, sieht weitere Verhandlungen vor – auf Grundlage des Friedensplans der Kontaktgruppe, der von den bosnischen Serben nach wie vor abgelehnt wird, sagt deren Führer Karadžić, auf Grundlage der Annahme dieses Friedensplans, sagt Präsident Izetbegović. Erfolgversprechend sind Verhandlungen nur, wenn man derjenigen Seite, die den Kompromiß als einzige abgelehnt hat, entgegenkommt. Also werden Vermittler, Unterhändler und Friedensapostel weitere Konzessionen an die serbische Seite machen, die diesen Krieg vorbereitet, ausgelöst und faktisch gewonnen hat. Nach dem Sieg auf dem Feld zeichnet sich so bereits ein Sieg auf dem diplomatischen Parkett ab: die Teilung Bosnien-Herzegowinas als Voraussetzung zur Bildung eines großserbischen Staates.
Die UNO, die EU, die USA, alle wollen sie bloß, daß es mit diesem leidigen Krieg endlich vorbei ist – selbst um den Preis der Anerkennung, daß sich militärische Aggression lohnt, daß Flüchtlinge kein Recht auf Heimkehr haben und „ethnisch gesäuberte“ Gebiete eben „ethnisch sauber“ bleiben. Doch vieles spricht dafür, daß die bosnische Regierung nicht bereit ist, den Verrat jener Prinzipien hinzunehmen, auf denen der zwischen- und innerstaatliche Frieden auch anderswo letztlich beruht. Spätestens wenn der Winter vorbei ist, wenn die Waffenarsenale weiter aufgefüllt sind, wird sie wohl wieder auf eine militärische Lösung setzen, falls keine politische gefunden wird, die diesen Namen verdient. Von Frieden kann also bei allem Optimismus noch lange nicht die Rede sein. Der Waffenstillstand könnte sich im Rückblick so als kurzes Intermezzo erweisen, das den Menschen in Sarajevo, Bihać, Goražde und anderswo wenigstens erlaubt hat, auszuruhen, durchzuatmen und Energie zu tanken für die nächste Runde. Thomas Schmid
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