: Im heiligen Schein der Sachzwänge
betr.: „Zur Mitte verdammt“ von Christoph Nick, taz vom 20. 8. 99
Seit Anthony Downs in einem Standardwerk [...] festgestellt hat, dass die Mitte der Ort ist, wo eine Partei eine Wahl gewinnen kann, wird wenig Neues zu diesem Sachverhalt konstatiert. Dies liegt zum einen daran, dass diese Aussage zweifellos etwas Richtiges in sich birgt, zum anderen aber gleichzeitig eine Legitimation abgibt, einen bestimmten Kurs als „alternativlos“ darzustellen. Damit stellt sich die Frage nach der Qualität einer bestimmten Politik nicht mehr. Ein Zustand, der die meisten Mandatsträger vor Kritik immunisiert, denn in Frage zu stellen ist ja nur noch, wie gut ein Mandatsträger oder Funktionär in die Mitte passt, nicht aber die Tatsache, dass qualitativ bessere Lösungen verschlafen werden.
In dieser Argumentation geistert eine biologische Vorstellung von politischen Prozessen umher, die sich in einem Darwinismus jeweils äußert: Die schlechten Lösungen können nicht zum Tragen kommen, weil sie nicht überleben. Analysiert man allerdings politische Zusammenhänge, dann gibt es keinen Hinweis darauf, dass ein solcher biologischer Marktmechanismus in dieser selektiven Form existiert. Insofern handelt es sich bei der „Alternativlosigkeit des politischen und wirtschaftlichen Systems“ um eine Schimäre, die allerdings sehr nützlich ist. Schon allein deshalb, weil sie vor anderen Ideen und Konzepten schützt und weil sie fast jede Sorte von etablierten Politikern mit einem heiligen Schein der Sachzwänge umgibt.
Es ist kein Wunder, dass Downs in der Wissenschaft heute nicht mehr relevant ist, seine Idee einer Mitte in einem Koordinatensystem zwischen Links und Rechts aber umherspukt. Und hier beginnt auch mein Problem mit den Ausführungen von Christoph Nick. Liest man seine Analyse sorgfältig, dann wird deutlich, dass es zum Richtungswechsel bei den Grünen/Bündnis 90 keine Alternative geben kann, als auch in eben diese Mitte zu ziehen. Dort herrscht allerdings nicht Kreativität und Debatte, sondern Ödheit und Eindimensionalität. Warum? Weil so viele Grüne als Wähler und Mitglieder von ihren Wünschen und Zielen vertrieben werden sollen. Denn, ob sie's wissen oder nicht, sie wollen die „schiere Unmöglichkeit“, suchen „einen sicheren Hafen“ und wollen, dass sich nichts verändert. Kurz, sie wollen der „Unordnung“ entfliehen.
Dabei stellt sich die Frage, ob Nick hier nicht etwas übers Knie bricht, denn vielleicht ist die Sache weniger eindeutig, als er annimmt. Wollen die Mitglieder und Wähler der Grünen tatsächlich nur auf die Flucht gehen? Sich verstecken vor einer harten Realität?
Hier treibt nicht alles in die Mitte, sondern auf eine Gabelung zu, die nur zwischen Realo und Fundi unterscheiden kann – eine Realität, die für die Grünen in dieser Totalität wohl schon lange nicht mehr gelten kann. Hinzu kommt, dass bei Nick nur Träumer sich für den Weg der Alternative, des Anderen, nämlich des Fundamentalisten entscheiden können. [...] André Berthy, Hamburg
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