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■ Im Jahr drei der HauptstadtdiskussionDer Un-Sinn des Umzuges

Damals, als das Bonner Wasserwerk am 20. Juni 1991 den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin beschloß, da sprach man von einer historischen Stunde. Waren das Zeiten. Doch schnell kam der Vereinigungskater. Dem durch eine Revision des Beschlusses Rechnung zu tragen verbot ein Rest an Anstand und Selbstachtung. Blieb also nur der Weg, den eine jede parlamentarische Initiative geht, die aus übergeordneten Interessen gleichermaßen vor dem Sterben bewahrt als auch an ihrer Realisierung gehindert werden soll: Kommissionen wurden eingesetzt und Gutachten eingeholt. Die Zahl der Politiker- und Expertenrunden, die sich seit nunmehr zwei Jahren dem Standortwechsel mit geradezu masochistisch anmutender Hingabe widmen, ist sinnfälliger Ausdruck eines Beharrungsvermögens, das die Bonner Republik über vierzig Jahre entwickeln konnte. Und die buchhalterische Akribie, mit der bis auf die letzte Beamtenstelle die Umzugskosten gewogen und für zu schwer befunden werden, ist zeitgenössischer Ausdruck des Vereinigungsprozesses.

Dabei ist die Säuernis, mit der die neue Hauptstadt auf diese Behandlung reagiert, nicht die des geprellten Ostlers, sondern die des Westberliners, der sich mit der nationalen Vereinigung aus der ehemals bundesrepublikanischen Ländergemeinschaft verstoßen, ja um die Früchte seiner jahrzehntelangen Hingabe als Vorposten der westlichen Welt betrogen sieht. Mit den fünf neuen Ländern in die Abstellkammer der neudeutschen Entwicklung gepackt, reagiert Berlins politische Klasse wie ein kleiner Angestellter, dem Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung droht. Verostung, lautet das Trauma. Um dem zu entgehen, will man sich möglichst bruchlos vom Sonderstatus der Frontstadt in jenen der Hauptstadt retten. Doch – und das ist das Berliner Dilemma in der Hauptstadtdebatte – zugleich muß man sich den ostdeutschen Interessen dienbar zeigen, gegen die Berlin sich doch eigentlich abgrenzen will. In dem Maße, wie die fünf neuen Bundesländer ihrer Rolle als rhetorisches Unterfutter in diesem Verteilungskampf gewahr werden, buhlen nun auch sie um die knappen Ressourcen. Der Streit um den Regierungsumzug verkommt solchermaßen zu einem bloßen Wettbewerb um Standortvorteile. Sinnfälliger Ausdruck hiervon ist die Initiative von 30 namhaften Unternehmen, die sich nun zur Interessengemeinschaft „Berlin 98 – Investoren für die Hauptstadt“ zusammengeschlossen haben. Die wirtschaftsfördernde Potenz ihres puren Daseins scheint der Bundesregierung bislang verborgen geblieben zu sein. Sollte Kohl sie erst erkennen, wird er sie in der ihm eigenen effektiven wie gerechten Art zu streuen wissen: von Berlin, Bitterfeld bis Bischofferode ein Standort, disloziert. Dieter Rulff

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