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Archiv-Artikel

Im Epizentrum

Die Montagsdemonstration am Hauptbahnhof: In seiner Stadtbetrachtung bezeichnete Joe Bauer Stuttgart 21 als Epizentrum einer nicht mehr nachvollziehbaren Stadtplanung gegen die Bürger und gegen die Demokratie. Die Rede im Wortlaut

von Joe Bauer

An diesem historischen 20. Juni, heute vor 78 Jahren, ist Clara Zetkin gestorben. Die Politikerin und Frauenrechtlerin hat viele Jahre in Stuttgart gelebt, zunächst in Sillenbuch, von 1899 bis 1903 auch in der Alexanderstraße 36, im vierten Stock mit guter politischer Übersicht. Sie war Abgeordnete in der württembergischen Landesversammlung. Das aber, meine Damen und Herren, muss man heute nicht mehr wissen, schon gar nicht, wenn man in der SPD ist. Frau Zetkin war mal Mitglied dieser Partei, allerdings nur, bis sie gemerkt hat, wo das hinführen würde in Stuttgart. Zu Drexler, Schmiedel, Schmid …

Zuletzt war viel von der Spaltung der Bewegung die Rede. Wenn ich aber hier auf den Platz schaue, sehe ich keine gespaltenen Menschen. Ich sehe muntere, mutige, energiegeladene Menschen, die weiterhin daran glauben, dass sie ein Recht haben auf ihre Stadt. Die Spaltung muss sich woanders ausgebreitet haben, nämlich als Schizophrenie in den Köpfen diverser Kommentatoren, die um Klickzahlen im Internet kämpfen.

Wenn sich Mitarbeiter und Sprecher aus den verschiedenen Gruppierungen der Stuttgart-21-Gegner verbale Scharmützel liefern, heißt das noch lange nicht, dass die Bewegung gespalten ist. Die Bürger sind nach wie vor vereint im Bewusstsein und im Kampf gegen den Unverstand und gegen die Großmannssucht, gegen die städtebauliche Verschandlung und den Ausverkauf dieser Stadt.

Stuttgart 21 ist das Epizentrum einer nicht mehr nachvollziehbaren Stadtplanung gegen die Bürger und gegen die Demokratie. Und es gibt berechtigte Zweifel, ob sich die Baupolitik an die Gesetze hält. Nach allen internationalen Erfahrungen im Immobilien-Milieu wäre dies ein Wunder. Schauen Sie sich nur mal den Monsterabriss zwischen Tübinger und Marienstraße an. Zur Klarstellung: Kein vernünftiger Mensch wäre gegen fortschrittliche, gegen architektonisch sinnvolle Veränderungen in der Stadt. Warum aber reißt man bei uns, gegen den Rat guter Architekten, darunter sehr wohl auch Fachleute aus dem Pro-Stuttgart 21-Lager, Häuser gleich block- und reihenweise ab? Gerade so, als wollte man 66 Jahre nach dem Krieg erledigen, was die amerikanische und britische Luftwaffe nicht geschafft hat. Anstatt mit gesundem Menschenverstand nach und nach Parzellen neu zu gestalten, mit Rücksicht auf den Charakter und die Identität von Stuttgart.

Auch wenn internationale Architekten warnen, es sei planerischer Schwachsinn, Shopping-Malls und Kommerzburgen großflächig ins Zentrum einer Stadt zu pressen, dann macht man den Kahlschlag erst recht bei uns. Die Leute, die heute von Fortschritt labern und andere als Zukunftsverweigerer verhöhnen – die sind geistig im Einkaufszentrum-Mief der siebziger Jahre stehen geblieben. Sie scheinen ihre Shopping-Malls auch nicht wie anderswo der Umgebung anzupassen – sie machen es genau umgekehrt.

Aus den fatalen Bausünden der Vergangenheit hat man nichts, aber auch gar nichts gelernt. 16 Großbaustellen zählt man zurzeit in Stuttgart. Mein Mitgefühl gilt den Leuten, die tagtäglich den Sternenstaub der Investoren schlucken müssen. Was ist das für eine urbane Unkultur!

Vor diesem Hintergrund der Betonierung ist es lächerlich und zynisch, ausgerechnet die harmlosen Indianerzelte im Schlossgarten mit provinzieller Engstirnigkeit als Verschandlung des Parks zu attackieren – anstatt diese originellen Wigwams mit großstädtischer Gelassenheit und Aufgeschlossenheit als Spiegelbild sozialer Realitäten zu begreifen.

Als die CDU neulich in Bremen ihre jüngste Wahlschlappe erlitten hatte, sagte der auch in unseren Gefilden nicht ganz unbekannte Herr Kauder, seine Partei habe das Lebensgefühl in den Großstädten nicht getroffen. Sprache ist verräterisch: Sie haben das Lebensgefühl nicht getroffen. Und ich sage Ihnen, warum: Man trifft nicht das Lebensgefühl der Menschen, wenn man darauf mit der Abrissbirne zielt. Man trifft es auch nicht mit Wasserwerfern und Pfefferspraydosen.

Dazu muss ich Ihnen eine Anekdote erzählen: Sie kennen alle den schönen alten Wasserwerfer, mit dem die Jungs vom Schlesinger die Kulisse der Demos bereichern. Die Behörden haben ihnen unlängst untersagt, die Karosserie des Fahrzeugs mit Aufschriften zu schmücken – etwa mit dem Spruch „Tränen lügen nicht“. Die Schriftzüge mussten gewissermaßen aus Denkmalschutzgründen von der Karosserie gekratzt werden, und zwar, weil sie den historischen Charakter des Autos zerstören.

Das bedeutet: Wenn Sie einem Oldtimer den linken Kotflügel abschrauben, verlieren Sie die Zulassung mit dem H-Schild. Das H steht für historisch. Wenn Sie aber einem denkmalgeschützten Bahnhof den linken und den rechten Flügel abhacken, behalten Sie Ihre H-Zulassung als anscheinend humaner Mensch.

Die meisten Politiker wissen vom Lebensgefühl in der Großstadt so gut wie nichts. Wie auch, wenn sie sich auf ihre Dörfer zurückziehen, um den Menschen aus dem Weg zu gehen. Stattdessen redet der Oberbürgermeister über Eskalation oder Deeskalation, ohne jede Ahnung davon, was an der Basis in Städten wie Stuttgart passiert. Nicht aus Jux habe ich eingangs Clara Zetkin erwähnt. Sie ist eine Persönlichkeit der Stadtgeschichte. Stadtgeschichte aber wird bei uns mit Überheblichkeit und Dummheit ignoriert. Und das ist so, weil genau die Herrschaften, die das Lebensgefühl der Menschen in der Stadt nicht kennen, die älteste Regel des Zusammenlebens missachten.

Diese Regel lautet: Nur wer die Geschichte seiner Stadt kennt, entwickelt ein Gefühl für diese Stadt. Und wer dieses Gefühl nicht hat, weil er nichts weiß von der Psychologie von Orten und Plätzen, der neigt dazu, diese Orte, diese Plätze – oder auch das Wasser – zu zerstören. So zerschlägt man die Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. All diese Dinge spiegeln sich in Stuttgart 21 wider, wir erleben den Angriff auf Leib und Seele einer funktionierenden Stadt. Es ist ein Angriff auf die Lebensqualität der Menschen.

Meine Damen und Herren, ich habe mit einem historischen Datum begonnen, und damit beende ich auch meine kleine Stadtbetrachtung. Herr Geißler von der Deutschen Bahn hat angekündigt, die Ergebnisse des Stresstests am 14. Juli bekannt zu geben. Ein guter Tag, nicht wahr: Ich war zwar nicht dabei, aber wenn ich richtig informiert bin, trafen sich an einem 14. Juli viele mutige Menschen in Paris – nicht zum Marsch auf den Kopfbahnhof – den gab es noch nicht –, sondern zum Sturm auf die Bastille. Bis zum heutigen Tag sind die Franzosen mit den Folgen dieser Art von Eskalation beschäftigt – und würdigen diesen Protest der Bürger noch immer mit Stolz als ihren größten Feiertag.

Joe Bauer ist Kolumnist der „Stuttgarter Nachrichten“.