: „Ich bin eben unmodisch. Leider!“
Jahrgang 1943, geboren in einem der ärmsten Viertel von Chicago, ist Spross russischer Einwanderer. Nach dem Studium der Musikwissenschaft musste er eine Laufbahn als Cellist nach einer misslungenen Handoperation begraben.
Nach dem Studium der Soziologie lehrt er dieses Fach in New York wie London. Forschungsgegenstände: Stadt, der moderne Kapitalismus. Berühmt wurde er in intellektuellen Zirkeln 1991 mit seiner Schrift über die „Tyrannei der Intimität“.
Sennett zählt international zu den Hauptstichwortgebern des linksliberalen Deutungsmilieus: Buchtitel wie „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ (2004), „Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“ (1998) und „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ (2005) zählen zum Kanon der globalisierungskritischen Szene wie der aufgeklärten Mittelschichten.
Der bekennende Linke diagnostiziert den aktuellen Trend des Kapitalismus als „mp3-Kapitalismus“ – Schnelligkeit und Beliebigkeit seien dessen Charakteristika. Sennetts neues Buch, „HandWerk“, erscheint Ende kommender Woche im Berlin Verlag (480 Seiten, 22 Euro). JAF
Der Soziologe Richard Sennett im taz.mag-Gespräch über den Vorteil von Fehlern, Verbesserungen und der Perfektion des Handwerks. Mutmaßungen über Ikea, Nikolaus Harnoncourt, die Büchse der Pandora und Adorno. Und weshalb Investitionen in Fertigkeiten sich langfristig auszahlen und Microsoft die taz verklagen wird
GESPRÄCH SUSANNE LANG & JAN FEDDERSEN
taz.mag: Herr Sennett, sind Sie heute schon Ihrem Schreibhandwerk nachgekommen?
Richard Sennett: Aber sicher. Ich schreibe jeden Tag, immer morgens.
Ganz wie Thomas Mann …
Hat er das auch so gehalten, ja? Wissen Sie, es ist ja so: Wenn man wartet, bis einen die Muse küsst, dann schreibt man schlecht.
Oder gar nicht?
Wenn sie einen nie küsst, kann das passieren. Ich gehe eher davon aus, dass sie jeden Tag Kontakt sucht, und sei es für eine Minute nur. Als Musiker bin ich tägliches Üben gewohnt. Von daher ist auch das tägliche Schreiben zur Gewohnheit geworden.
Was ist Ihrer Meinung nach gute Arbeit, gutes Handwerk?
Ich würde sagen, etwas, mit dem man am Ende ein Problem gelöst und gleichzeitig ein neues aufgeworfen hat.
In diesen Tagen erscheint Ihr neues Buch, „Handwerk“, der erste Band einer Trilogie, in der Sie sich mit Qualität, handwerklichem Können und handwerklichen Fertigkeiten befassen. Ist Ihnen dieses Problem bewusst geworden, als Sie sich mit Ihrer Kritik am Kapitalismus befasst haben?
Die Idee, dass handwerkliche Qualität uns abhandenkommt, trage ich schon sehr lange mit mir herum. An dem ersten Band des Buchprojekts habe ich zehn Jahre gearbeitet. Genau in der Zeit also, in der ich in mich mit der Kritik am modernen Kapitalismus beschäftigt hatte. Ich wollte mich aber nicht nur auf die Jetztzeit konzentrieren, nicht nur mit den Arbeitsbedingungen beschäftigen und damit, wie Arbeiter unterdrückt werden, sondern auch auf die Frage des Herstellungsprozesses gründlich eingehen.
Welche ist es denn?
Was bedeutet es, gute Arbeit zu leisten – und wie streben Menschen nach Qualität? Diese Frage geht weit zurück in die Geschichte der westlichen Kultur.
Wir dürfen Karl Marx für dieses Gespräch mal kurz vergessen?
Um ein tieferes Verständnis für das Herstellen von Dingen, für das materielle Engagement von Menschen zu erhalten, ist es eher hinderlich, mit Karl Marx den Blick auf die sozialen Bedingungen zu verengen. Ich bin eher an dem Problem interessiert, das sich der Pandora schon stellte: die Annahme, dass wir uns selbst sehr schaden können in unserem Streben, uns und unsere Technologie stetig zu verbessern. Ich versuche, den Zusammenhang zwischen dem materiellen, dem physischen und dem mentalen Aspekt von Arbeit zu beschreiben. Ein kulturell-materialistischer Ansatz, wenn Sie so wollen.
Fruchtet dieser Ansatz denn auch bei einem gewöhnlichen Job mit Tarifvertrag und geregelter Arbeitszeit, sagen wir in einem Büro, in dem man Jahr für Jahr, Tag für Tag an einem Computer sitzt, um den Lebensunterhalt zu finanzieren?
Natürlich. Eine der großen Herausforderungen ist es doch immer noch, Routine in Arbeitsabläufe zu bringen, um sie effektiver zu organisieren. Wie dieses routinierte Arbeitsleben für den einzelnen Menschen substanzieller gestaltet werden kann, ist eine soziale Herausforderung. Mein Interesse richtet sich auf den Lernprozess, wie Fertigkeiten erworben werden, worin sie bestehen und wie sie angewandt werden – und das ist erst recht für Jobs in Büros oder Fabriken wichtig.
Lässt sich diese Frage den verallgemeinern? Es gibt doch Fertigkeiten unterschiedlichster Art?
Grundsätzlich glaube ich, dass handwerkliche Fertigkeiten auch in einer Dienstleistungsgesellschaft auf ein menschliches Grundbedürfnis verweisen: den Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Das meint nicht allein jene Tätigkeiten, die wir unter Handwerk verstehen, die Arbeit mit Holz oder Metall oder Glas.
Sondern?
Der Punkt ist doch, das wissen wir alle: Menschen wollen Fertigkeiten erwerben, um etwas, einen Prozess, ein Handwerk, zum Gelingen zu bringen.
Nun geschieht der Erwerb von Fertigkeiten ja nicht in einem neutralen Raum, sondern unter politischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen bestimmte Autoritäten definieren, woraus Qualität entsteht. Welche Instanzen sind das in unserer Gesellschaft?
Nun, das ist ein weites Feld, da wir eine sehr konstruierte Vorstellung von Autorität haben. Ich würde zwei Modelle unterscheiden: Das erste fußt auf der Idee, wie eine Aufgabe idealerweise erledigt werden soll. In der Konsequenz neigt dieses Modell zu stark formalen, standardisierten Kriterien im Arbeitsprozess. Das andere Modell orientiert sich am Prozess der Herstellung: Wie erreiche ich etwas am besten?
Im modernen Kapitalismus …
… favorisiert meiner Erfahrung nach vor allem der Technologiesektor formalisierte Modelle. Es geht darum, zu funktionieren. Sobald man sich aber auf eine Verbesserung des Herstellungsprozesses konzentriert, kommt der Mensch ins Spiel, mit all seinen Schwierigkeiten. Das war ja bereits Platons Dilemma: Man hat eine ideale Vorstellung davon, wie etwas gemacht werden soll, andererseits handeln menschliche Wesen, die keine idealen Kreaturen sind.
In gewisser Weise hat sich das Dilemma im globalen Kapitalismus aber doch verschärft: Niemand hat mehr das Gefühl, Raum und Zeit zur Verfügung zu haben, um Erfahrungswerte zu sammeln.
Das stimmt mit Sicherheit, auch Fehler dürfen nicht mehr geschehen. Dabei sind Scheitern oder Fehler notwendige Voraussetzungen für Verbesserung. In einem Sozialstaat, wo Arbeitnehmer nicht fristlos gekündigt werden können, bleibt dafür mehr Spielraum, auch wenn er nicht zwangsläufig produktiv genutzt wird. Das kapitalistische Modell hangelt sich von Erfolg zu Erfolg – ein sehr unrealistisches Modell.
Warum bloß setzt es sich durch?
Darauf habe ich eine nur sehr allgemeine Antwort als These, die in Ihren Augen paradox klingen mag: Wenn wir wirklich an eine Gesellschaft glauben würden, in der Fertigkeiten und handwerkliches Können Werte wären, dann würden wir dem Prozess, diese zu erwerben, mehr Raum gewähren. Ich meine auch die Freiheit, Fehler machen zu dürfen.
Im Kapitalismus, der auf Effizienz setzt, eine Illusion, nicht wahr?
Keineswegs. Dass dies auch in kapitalistischen Gesellschaften möglich ist, zeigt das Beispiel japanischer Autofirmen. Wenn dort im Produktionsprozess ein Fehler auftritt, kommen die Arbeitsteams zusammen, beginnen zu diskutieren und lösen das Problem gemeinsam. Im europäischen oder amerikanischen Westen ist das eine sehr ungewöhnliche Haltung, vor allem hier in Großbritannien ist sie völlig ausgestorben. Wenn etwas nicht funktioniert, wird einfach ein neues Team rekrutiert. Mit Kurzzeitarbeitsverträgen ist das auch kein Problem.
Wo wird das enden? Mit einem Kollaps des Systems?
Tja, wer weiß das schon, vielleicht. Ich glaube eher, dass eine veränderte kulturelle Mentalität weiterführen würde und wird. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: Warum hat sich gerade in Indien der Markt für Callcenter so gut entwickelt?
Weil Indien ein Markt für billige Arbeitskraft ist?
Nein. Einer der Gründe ist, dass dort sehr viel Wert auf die Ausbildung der Beschäftigten gelegt wurde. Sorgfältig sind sie darauf vorbereitet worden, was sie konkret am Telefon leisten können und sollen. All die Fragen, die sie verstehen müssen. Und zwar nicht mit einem kleinen Büchlein mit Standardantworten. Stattdessen wurde ihr Englisch in Sprachkursen verbessert, sie erhielten eine Kulturschulung über England und die USA. Das ist eine Investition in Fertigkeiten, die auf längere Sicht angelegt ist. Und sie bringt Gewinn.
Wie könnte man denn innerhalb unserer Kultur die Wertschätzung von Qualität erhöhen? Indem Produkte einfach verteuert werden, so wie Lebensmittel mit dem Bio-Appeal?
Das ist eine Möglichkeit. Ich denke aber, dass der indische oder auch der japanische Weg ertragreicher ist, also eine Verschiebung von einem kurzfristigen Funktionsdenken zu einer längerfristig angelegten Wertschätzung von Fertigkeiten.
Das gilt für die Ökonomie allein?
Und erst recht für die Kunst!
Weshalb vermissen Sie in ihr Fertigkeiten?
Insbesondere in der visuellen Kunst hat handwerkliches Können stark an Stellenwert verloren. Alles, was zählt, ist die moderne Kunst, sie allein gilt als wahre Kunstform. Die Künstler wiederum entwickeln ihren persönlichen Stil nur, indem sie sich am Markt orientieren. Und der fragt immer nur das Andere, das Neue nach. Kein Künstler kann mehr seinen eigenen Stil entwickeln, er muss Moden folgen. Aber diese meine Position gilt wahrscheinlich als eben unmodisch. Leider!
In Deutschland könnte Ihnen zumindest Kulturkonservatismus vorgeworfen werden.
Aber auch nur von visuellen Künstlern, von einem Musiker würden Sie das nie zu hören bekommen. Die Konzentration auf Ausdruck in Opposition zur Technik, die gibt es in der Musik nicht.
In dieser Sparte existiert auch kein Markt wie in der Kunst, in dem astronomische Summen für einzelne Werke gezahlt werden. Also wieder ein Problem, das der Kapitalismus verursacht?
Ja, das ist der Grund. Erfahrungswerte zu sammeln, seine Hände zu üben, diese traditionelle Herangehensweise …
… ein Kontinuum zu entwickeln, statt Moden hinterherhecheln zu müssen …
… all dies zählt am Markt nichts. Für Künstler ist es aber sehr destruktiv, diesen Dialog zwischen der Entwicklung von Gewohnheiten, der Erfahrung und der Selbstreflexion aus den Augen zu verlieren. In gewisser Weise trifft das ja auch auf Autoren zu.
Auf Sie doch nicht!
Die Nische für meine Arbeit ist auch klein geworden, das muss ich sagen.
Ihre Bücher sind doch sehr erfolgreich, Sie als Person ein global beliebter Debattierer?
Ich mache dennoch die Erfahrung, dass es kaum mehr eine Öffentlichkeit für essayistisches Schreiben gibt. Heute sind Verleger am Verkauf interessiert, worunter vor allem junge Intellektuelle leiden. Sie bekommen kaum mehr Aufmerksamkeit. Aber ich denke, da unterscheiden sich England und Deutschland auch sehr.
Glauben Sie?
Ja, in Deutschland gibt es eine sehr viel intellektuellere Öffentlichkeit.
Nun ja, in England existiert keine Feuilletonkultur, aber ist das ein Nachteil?
Das im Speziellen ist ein britisches Problem, das seine eigene Verrücktheit in sich birgt. Allgemeiner gefasst, stelle ich fest, dass die Qualität als Wert auch beim Schreiben an den Rand gedrängt wurde. Wie man sein Schreibhandwerk stetig verbessert, ist doch irrelevant für einen Schlagzeilenmacher, der dem Tod von Lady Diana nachjagt. Ganz abgesehen davon, dass Sprache selbst ein Handwerk ist, das uns behilflich ist, andere Handwerke zu lernen und Probleme zu lösen. Qualität in diesem Sinne ist marginalisiert.
Man kann nicht mit hohem Anspruch schreiben und populär sein?
Die Frage ist doch, ob das wirklich gutes Handwerk ist. Ist Adorno ein guter Handwerker? Für mich nicht.
Da müssen Sie selbst lachen! Vielleicht wollte er kein guter, populärer Handwerker sein?
Ja, selbstverständlich, er ist ein sehr besonderer Fall. Sehr kompliziert, nicht wahr? Haben Sie jemals seine Musik gehört? Ich habe sie gespielt …
Und?
Grauenhaft romantisch! Ein Klischee reiht sich an das nächste. Die Musik klingt wie Alban Berg, ist aber nicht so gut. Aber das nur am Rande. Als Autor ist Adorno ein sehr schwacher Handwerker – bis auf „Minima Moralia“. Kein Buch, das Freude macht, aber eines, in dem jemand endlich den Akt des Schreibens ernst nimmt.
Wie erklären Sie sich das? Bei Adorno war es mit Sicherheit nicht der Kapitalismus, der ihn das Handwerk vernachlässigen ließ, oder?
Bei ihm handelt es sich um eine außerordentlich romantische Figur, die eher im 19. statt im 20. Jahrhundert verankert ist. Trotz all seiner Kritik an Authentizität hat er sich völlig dem Modell der Innerlichkeit verschrieben. Deshalb, denke ich, hat er auch Strawinsky so verachtet, Strawinsky ist der ultimative musikalische Handwerker. Etwas in Adorno muss dagegen rebelliert haben, es wirkte kalt auf ihn, er vermisste das innere Drama, auf das man sich gemäß der romantischen Weltsicht beziehen muss. Seine Schriften zur Musik handeln nur davon. Ich denke viel über ihn nach, weil er der Soziologe ist, dessen Biografie meiner am nächsten ist. Philosophisch entspringt mein Buch über Handwerk jedoch dem Pragmatismus, der zu meinem Erstaunen nun auch in Deutschland gedeiht – nach all den Dramen des letzten Jahrhunderts.
Finden Sie? Er sprießt aber doch eher sehr zart.
Ich glaube, dem liegt das völlig andere Verständnis von Subjektivität zugrunde. Der Pragmatismus begreift sie nicht als etwas Individualisiertes, sondern bettet sie ein in konkrete Praxis, die nicht nur von einem Individuum gestaltet wird. Man hat Gefühle, aber diese Gefühle haben einen objektiven Rahmen. Wenn Sie so wollen, ist die Bezugsgröße die Außenwelt, nicht die Innenwelt. Ein großartiger Cellolehrer sagte einmal zu mir: „Wissen Sie, mich interessiert nicht, welche Gefühle Beethovens Musik in Ihnen weckt, mich interessieren Beethovens Gefühle.“ Philosophisch gesehen ist das ein sehr pragmatischer Ansatz.
Dann müssen Sie ein Fan von Nikolaus Harnoncourt sein, dem österreichischen Dirigenten.
Ich liebe ihn. Wie kommen Sie darauf?
Weil er versucht, die Musik genau so wiederzugeben, wie sie in ihrer Entstehungszeit gespielt wurde. Er modernisiert nicht, er passt nichts der Moderne an – dafür setzt er alte Instrumente ein.
Das Interessante an ihm ist aber nicht, dass er alte Instrumente einsetzt, sondern dass er in die Gedankenwelt der Musik einzutauchen versucht: Was bedeutet es, diese Musik zu spielen? Anders gesagt: Wenn man Tschaikowsky spielt, dann sollte man Tschaikowsky sein.
Woher wissen Sie, wer Tschaikowsky war und was er fühlte?
Selbstverständlich kann das niemand wissen. Ich wollte nur den pragmatischen Ansatz verdeutlichen, der besagt, dass man nicht bei sich ist, subjektiv und innerlich, sondern sich der Musik überlässt. Das bringt das viele Üben mit sich, und das ist das Resultat, wenn man sich mit dem Stoff immer wieder auseinandersetzt. Auf eine Art ist dies auch die Essenz dessen, was ich als „Handwerk“ beschreibe.
Vielleicht sind wir tatsächlich zu deutsch, aber die Wahrnehmung der Außenwelt bleibt doch immer eine subjektive, Objektivität eine Konstruktion?
Aber natürlich existiert Objektivität. Sie ist nur nicht definiert als der eine richtige Weg, Dinge zu tun oder zu interpretieren. Unser Verhältnis zu ihr darf man nicht als ein besitzergreifendes verstehen, man orientiert sich an kollektiven Erfahrungswerten. Die Frage dabei ist nicht, welche Gefühle ich für diese Welt empfinde, sondern, wie sie beschaffen ist.
Um bei der Musik zu bleiben: Manche Kritiker der Schule von Nikolaus Harnoncourt meinen, seine Interpretationen seien allzu perfekt.
Ja, ich weiß, ich kenne diese Einwände. Ich habe nie verstanden, was sie bedeuten sollen. Das führt zurück zu der Frage nach Autoritäten.
Bitte sehr!
Man kann eine Vorstellung entwickeln von dem einen richtigen Weg, Musik zu spielen. Dann ist sie perfekt. Ich glaube aber nicht, dass Harnoncourt einen idealen Klang im Kopf hat, er arbeitet vielmehr mit dem Material und den Musikern. Dieser Ansatz beinhaltet trotzdem eine Vorstellung, wie etwas gespielt werden sollte, aber es wird im Übungsprozess ausgehandelt. Das ist der Schlüssel. Deshalb achtet Harnoncourt etwa bei seinen Aufführungen sensibel darauf, welche Musiker er einsetzt, weil er weiß, was jeder individuell in die Gruppe einbringen kann. Ein Prinzip übrigens, das man nicht nur in der künstlerischen Welt finden kann.
Nikolaus Harnoncourt: Mitglied einer österreichischen Adelsdynastie, Jahrgang 1929, berühmt geworden aber als Dirigent klassischer Musik. Zunächst begann er als Außenseiter, indem er Anfang der Fünfziger einen Musikkreis gründete, den er Concentus Musicus nannte. Mit diesem Ensemble suchte er den Klang klassischer Stücke in deren Zeit zu reproduzieren. Inzwischen zählt H. zum Establishment. Künstlerinnen wie Cecilia Bartoli gehören zu seinen Schülerinnen: Auch sie recherchiert das Material ihrer Performances selbst und versucht, es so authentisch wie möglich klingen zu lassen.
Pandora: Figur aus der griechischen Mythologie (deutsch: Allbegabte); „die Büchse der Pandora“ ist eine Wendung, die bedeutet, dass durch Neugier die Plagen in die Welt gelassen wurden; zuvor waren sie in einer Büchse eingesperrt.
Adorno, Theodor W.: Deutscher Philosoph mit starker Neigung zu neutönenden Komponisten, immer auf der Suche nach der reinen Ästhetik im Klang.
Ikea, Apple: Firmen, die in den global linksliberalen Milieus (und nicht nur bei ihnen) starke Popularität genießen. JAF
Wo denn noch?
Nehmen Sie Software- oder Computerfirmen. Bei meinen Recherchen in Silicon Valley habe ich herausgefunden, dass die erfolgreichen Unternehmen sehr genau darauf geachtet haben, wie die Arbeitsteams zusammengesetzt sind. Auch wenn wir denken, dass dort Nerds, Individualisten abstrakte Codes und Programme entwickeln. Viele der Ingenieure hatten zum Beispiel kleine Kinder, sie konnten daher nicht in dem regulären Arbeitszyklus von achtzehn Stunden pro Tag arbeiten. Aber auch das haben die guten Firmen bei der Zusammenstellung der Teams berücksichtigt. Und nicht etwa aus Wohltätigkeit, nein: Sie sind an einem objektiv guten Ergebnis interessiert, und dafür muss man den Arbeitsprozess gut organisieren. Das setzt ein völlig anderes Verständnis von Gesellschaft voraus als das funktionale Setzen von Standards.
In Ihrem Buch geben Sie ein weiteres Beispiel dafür, dass die Art, wie wir Dinge herstellen, etwas darüber aussagt, wie und was wir sind: das des Kochens. Liegt das daran, dass in bestimmten Kreisen wieder mehr Wert aufs Kochen gelegt wird?
Nicht so sehr – obwohl ich diese Entwicklung großartig finde; ich koche selbst sehr gerne. Was mich dabei interessiert hat, war wiederum mehr die Frage, wie Menschen ihre Fertigkeiten verbessern und welchen Stellenwert Sprache dabei hat, vor allem wenn es um physische Fertigkeiten geht. Um dies zu veranschaulichen, habe ich ein zugegebenermaßen extremes Beispiel ausgewählt: wie man die Knochen eines Huhnes auslöst.
Ein leidiges Problem!
In der Tat. Beim Vergleich von drei unterschiedlichen Rezeptanleitungen wird sehr schnell deutlich, dass diejenigen nutzlos sind, die den Vorgang in Formalsprache beschreiben. Sie kommunizieren nicht mit dem Menschen, für den sie verfasst sind. Je ausdrucksstärker die Sprache ist, desto besser kann er eine Verbindung herstellen zwischen dem Gehirn und seinen Händen, die die Arbeit erledigen sollen. Der Zusammenhang zwischen Fertigkeit und Vorstellung wird so oft negiert. Sie kennen das Problem vielleicht, wenn Sie die Bedienungsanleitung für Ihren Computer gelesen haben. Oft sind solche Anleitungen aus technischer Sicht perfekt verfasst, aber völlig wertlos für einen Nutzer, der kein Ingenieur ist.
Ist das ein Grund, weshalb Apple so erfolgreich ist?
Definitiv ja. Die Ingenieure und Softwareentwickler haben sich in ihre Kunden hineinversetzt, die eben zunächst nicht wissen, wie so ein Computer bedient wird. Das erfordert wiederum eine große Fertigkeit der Techniker. Dass es dennoch so lange gedauert hat – eigentlich bis zum iPod –, bis Apple auf dem Massenmarkt erfolgreich war, sagt wiederum viel über den Kapitalismus aus: Handwerklich brillant gefertigte Produkte bleiben oftmals in einer Nische, weil das System Qualität nicht als privilegierten Wert erkennt.
Der Beste gewinnt eben nicht?
Nein, Microsoft ist ein gutes Beispiel – wenn Sie das schreiben, werden Sie übrigens verklagt, die sind nicht so glücklich darüber.
Bietet Ikea, ein Massenmarktunternehmen, annehmbare Qualität?
Selbstverständlich.
Sie mögen Ikea?
Na klar.
Ist Ihnen das peinlich – oder warum lachen Sie?
Nein, ich habe sogar Möbel von Ikea.
Wo haben Sie die denn versteckt?
Im Schlafzimmer, Ikea hat sehr gute Betten. Was das Unternehmen angeht, so hat es, inspiriert von Bauhaus, etwas Ähnliches geschafft wie Apple: die Kluft zwischen Produzenten und Konsumenten zu verkleinern. Dafür brauchte es handwerkliches Können.
In den nächsten Bänden Ihrer Trilogie wollen Sie sich weniger mit handfesten materiellen Dingen beschäftigen als mit Politik, Religion und Umwelt. Welche Rolle spielt dort noch handwerkliches Können?
Im Umweltbereich wird es mehr und mehr um die Frage gehen, wie wir umweltfreundlichere Produkte herstellen und wie wir Probleme wie das der schrumpfenden Städte architektonisch lösen. Was die Politik angeht, interessiert mich das Handwerk, das in politische Entscheidungen einfließt. Die Frage wird sein, wie Menschen in Machtpositionen gute Arbeit leisten, auch im Militär oder in Kirchen. Vor allem in der Politik, glaube ich, kommt man nicht sehr weit, wenn man ein ideales, perfektes Ergebnis anstrebt. Aber viele Politiker, insbesondere in den USA, wo Wahlen immer mehr zu einem Personalityshow werden, sind leider sehr schlechte Staatsmänner.
Was uns zum politischen Ereignis dieses Jahres bringt: Was ist mit Hillary Clinton, der demokratischen Präsidentschaftskandidatin?
Sie ist eine fantastische Handwerkerin, aber nicht sehr gut in der Außendarstellung, auf der Bühne.
Wird sie die Vorwahlen der Demokraten gewinnen?
Ich glaube nicht. Die Mehrheit der Amerikaner will immer noch mehr Bush. Jemanden, der nett ist, der sie nicht mit Problemen konfrontiert – woran ja auch Al Gore gescheitert ist.
Würden Sie Clinton wählen?
Selbstverständlich, obwohl ich persönlich Barack Obama vorziehe. Er ist sehr intelligent. Dennoch glaube ich nicht, dass die amerikanische Öffentlichkeit bereit ist, einen Schwarzen zu wählen, der noch dazu längere Zeit in einem islamischen Land gelebt hat.
SUSANNE LANG, 31, taz-zwei-Ressortleiterin, ist Gaststipendiatin beim britischen Guardian; JAN FEDDERSEN, 50, ist taz.mag-Redakteur. Sie trafen Richard Sennett in London