■ Ian Buruma, einer der besten Kenner des Fernen Ostens, beschreibt, warum niemand in Südkorea ernstlich die Wiedervereinigung des Landes möchte und warum sich kaum jemand für das Modell Deutschland begeistert: Wird die Mauer fallen?
Vielleicht wäre Nordkoreas Wirtschaft längst am Ende, wäre da nicht eine Einkommensquelle besonderer Art: Flippergeld. Es gibt in Japan etwa 17.000 Spiel- oder Pachinko-Hallen; viele sind groß, prunkvoll und grandios, wie Rokokopaläste zwischen vorstädtischen Reisfeldern. Ein Drittel dieser Vergnügungshallen sind im Besitz von Nordkoreanern, die dem Allgemeinen Verband der Koreaner in Japan angehören – „Chosen Soren“. Die Mitglieder der Organisation schicken jährlich mindestens zwei Milliarden Dollar nach Nordkorea. Das ist nur der offiziell deklarierte Betrag. Die tatsächliche Ziffer liegt vermutlich viel höher.
Das Hauptquartier der Chosen Soren in der Tokioter Innenstadt ähnelt einer Festung: massiv und umgeben von einer Burgmauer im traditionellen Stil. Kameras zeichnen jeden auf, der durch die Eisentore tritt. Alles signalisiert: hier ist das Hauptquartier von Menschen im Belagerungszustand, und der Allgemeine Verband der Koreaner in Japan ist keinesfalls knapp bei Kasse.
Praktisch alle Mitglieder von Chosen Soren sind in Japan geboren. Die meisten sind Abkömmlinge von Südkoreanern, die vor dem Krieg in Japan Arbeit suchten. Im Unterschied zu vielen Koreanern, die während des Krieges kamen, um in japanischen Fabriken und Bergwerken ihre Knochen hinzuhalten und häufig zu brechen, kehrten diese frühen Einwanderer nach 1945 nicht nach Korea zurück. Nachdem 1948 die Republik Korea im Süden und die Demokratische Volksrepublik Korea im Norden proklamiert worden waren, mußten sie sich entscheiden: Sympathisanten Pjöngjangs wurden Nordkoreaner und werden vertreten von der Chosen Soren; wer Seoul zur Hauptstadt wählte, trat in die rivalisierende Organisation „Mindan“ ein. Koreaner, die statt dessen beschlossen, japanische Bürger zu werden, mußten alle Bindungen zum alten Lande aufgeben, einschließlich ihrer koreanischen Familiennamen.
Es ist nicht klar, wie viele Mitglieder Chosen Soren wirklich hat. Die von der Organisation selbst genannte Zahl lautet 250.000, aber ein japanischer Fachmann für koreanische Angelegenheiten sagte mir, die tatsächliche Zahl belaufe sich kaum auf die Hälfte.
Die politische Sympathie ist häufig nur einer der Gründe, warum so viel Spielhallengeld nach Pjöngjang fließt. Der andre Grund ist, daß viele Koreaner in den fünfziger und sechziger Jahren aus Japan nach Nordkorea zurückkehrten. Und nun müssen ihre in Japan gebliebenen Verwandten Geld und Waren nach Pjöngjang schicken, sonst kann es passieren, daß die ehemaligen Übersee-Koreaner in entlegene Dörfer verschickt und vielleicht sogar als japanische Spione denunziert werden. Unter den Mitgliedern der Chosen Soren zählen die wahren Gläubigen Kim Il Sungs und seines Sohnes vielleicht nur wenige tausend Menschen. Wie so häufig bei seltsamen Kulten hat der Grund für ihren Glaubenseifer mit „Identität“ zu tun.
Choe Kwan Ik, der junge Abteilungsleiter des Chosen-Soren-Büros für internationale Angelegenheiten, versuchte es mir zu erklären – auf japanisch. Selbst nach drei Generationen in Japan, sagte er, betrachten Koreaner noch immer Korea als ihr Vaterland. Dieses Gefühl wird von der Organisation aktiv gefördert. Die Kinder werden in koreanische Schulen geschickt, wo sie Schuluniformen im koreanischen Stil tragen. Chosen Soren hat außerdem in ganz Japan Büros zur Ehe- und Partnervermittlung eingerichtet, damit ihre Mitglieder geeignete koreanische Partner finden können. „Sonst“, meint Choe, „würden die jungen Menschen nicht mehr Leute von ihrer Art heiraten.“
Ich fragte ihn, ob er seine Kinder Südkoreaner in Japan heiraten lassen würde. Er hat nichts dagegen. Und wie stünde es mit Japanern? Das wäre etwas anderes, meinte er: „Ich will kein Japaner sein. Ich nehme meine ethnische Herkunft ernst.“
Das tun natürlich auch die meisten Japaner, und deshalb fällt es den Koreanern schwer, ihren Platz zu finden. Die reizbare Identität Choes, der wie seine Eltern in Japan geboren wurde, ist eine Möglichkeit, mit der Diskriminierung fertig zu werden. „Wenn Japaner von Internationalisierung sprechen, lachen wir nur“, sagte er. „Selbst wenn man beschließt, sich zu assimilieren und Neu-Japaner zu werden, wird man nicht akzeptiert, weder von den Japanern noch von den Koreanern.“ Also glaubt er an einen defensiven koreanischen Nationalismus. Er möchte die Wiedervereinigung Koreas, weil „die Japaner uns dann nicht mehr diskriminieren können. Die Japaner verachten uns, weil wir geteilt sind. Aber wenn wir ein Volk sind, in einem starken, vereinten Korea, dann werden uns die Japaner fürchten.“ Solche Gefühle sind nicht auf Nordkoreaner in Japan beschränkt. Ich hörte einen jungen Diplomaten an der südkoreanischen Botschaft in London genau das gleiche sagen.
Das war ein wichtiger Bestandteil von Kim Il Sungs Anziehungskraft: er galt bei seinen Anhängern in Japan eher als geistiger Erlöser des koreanischen Volkes denn als kommunistischer Diktator. Während der Süden von militärischen Schützlingen der USA regiert wurde, versprach der Große Führer die Wiederherstellung des Vaterlandes. Wie es Choe Kwan Ik ausdrückte: „Genosse Kim Il Sung bot uns geistige Führung. Er war wie ein Vater. Und sein Sohn Kim Jong Il wird genauso sein. Wir sehen da keinen Unterschied.“ Die Art geistige Führung, wie sie von Pjöngjang ausgeht, basiert mehr auf Blut als auf Boden: sie umfaßt alle Koreaner, wo immer sie leben, ob in Japan, Korea, China oder den USA. Pjöngjang wird als Jerusalem des Koreanertums dargestellt. Dort bietet sich den Übersee-Koreanern die Illusion einer heroischen koreanischen Identität.
Allerdings sind viele junge, in Japan geborene Nordkoreaner längst nicht mehr so daran interessiert wie ihre Eltern und Großeltern. Sie lassen sich von den Taten des Großen Führers nicht so leicht beeindrucken. Mit Bedauern in der Stimme gab Choe zu, daß junge Leute zunehmend „japanisiert“ würden. Aber die japanischen Südkoreaner, die der Mindan-Organisation angehören, sagte er, seien noch weit schlimmer dran. Nicht nur hätten sie sich weniger Mühe gegeben, geeignete Ehepartner für ihre Mitglieder zu finden, um „die Rasse reinzuhalten“, sondern mehr und mehr hätten auch beschlossen, sich zu assimilieren und „Neu-Japaner“ zu werden. Choe „hatte das Gefühl“, die Mindan sei ernsthaft noch nicht einmal an der Wiedervereinigung des Vaterlandes interessiert. Aber er fügte hinzu, die Leute von der Mindan seien „eifersüchtig auf unsere starke Identität“.
Das ist durchaus möglich. Denn Choes Sorgen über die Identität werden von einigen Südkoreanern geteilt. Es herrscht eine Verwirrung um Nation, Staat und Rasse, von der die Politik der Wiedervereinigung getrübt wird.
Die Koreaner haben also das gleiche Problem wie Deutsche, Chinesen und Juden. Sie betrachten sich als mehr denn nur Bürger eines oder mehrerer Staaten. In ihren eigenen Augen sind sie, wo immer sie sind, ein einziges Volk, aufgrund ihrer gemeinsamen Geschichte, Kultur, Sprache und Abstammung. Deshalb können beide koreanische Staaten mit B.C. Kohs Worten in „Korea and the World“ (hrsg. von Young Whan Kihl, Verlag Westview) darin übereinstimmen, daß „es leichter wäre, die ,nationale Wiedervereinigung‘ zu erlangen (minjokjok t'ong'il) als die ,Wiedervereinigung der Systeme‘ (chedojok t'ong'il)“. Das Wort minjok ähnelt in seiner Bedeutung dem deutschen Wort Volk; es kann Nation bedeuten, oder Volk, oder sogar Rasse. Es kommt koreanischen Politikern auf beiden Seiten der entmilitarisierten Zone leicht über die Lippen. Kim Young Sam, der erste gewählte Zivilist im Amt des südkoreanischen Präsidenten, verwendete den Ausdruck letztes Jahr in seiner Antrittsrede: „Keine verbündete Nation kann wichtiger sein als das Volk (minjok). Wenn dem Vorsitzenden Kim Il Sung das Volk wirklich am Herzen liegt, kann ich jederzeit und überall mit ihm zusammentreffen.“
Sicherlich war Korea sogar als Teil des japanischen Imperiums ein Land. Die Teilung der koreanischen Halbinsel war 1945 eine administrative Entscheidung der USA und der Sowjetunion. Sie erschien damals als gute Idee, oder jedenfalls als praktikabel. Aber mit dem Kalten Krieg vertiefte sich die Spaltung. Der Kampf der beiden Koreas gehörte offensichtlich zum Kalten Krieg zwischen den Ideologien: Kapitalismus und Freiheit auf der einen Seite, der Kommunismus auf der anderen. Besucht man die entmilitarisierte Zone von Südkorea her, erzählen einem noch immer die US-Soldaten, man stehe „am Rand der Freiheit“. Dahinter liegt die Freiheitsbrücke. Das Grenzdorf heißt Freiheitsdorf. Und so weiter.
Wenn Kim Il Sung das japanische Imperium auch nicht mit eigenen Händen besiegt hat, wie es die nordkoreanischen Historiker uns gern glauben machen würden, so kämpfte er doch gegen die Japaner. Sein größter Rivale im Süden, Präsident Park Chung Hee, war dagegen Offizier in der japanischen Armee gewesen. Und wenn Kim Il Sung auch nahezu unbekannt geblieben wäre, hätte die Sowjetunion nicht 1945 beschlossen, ihn zum Duce von Nordkorea zu erheben, so wirkte seine Vision absoluter Autarkie doch heroischer, mehr dem minjok entsprechend, als Südkoreas unterwürfige Bindung an die USA. Die US-Armee unterhält noch immer einen großen Stützpunkt im Zentrum Seouls, als wolle sie diesen Punkt hervorheben.
Daher konnte der Große Führer den koreanischen Nationalisten in Japan wie in Südkorea als romantischer Held des minjok erscheinen. Radikale Studenten in Südkorea wurden von Kim Il Sungs Aura gewonnen, nicht weil sie Kommunisten waren, sondern weil er ein Ende der nationalen Schande versprach. Und so lange diese Studenten gegen die Exzesse der einander folgenden Militärregierungen demonstrierten, konnten sie in Südkorea auf viel Sympathie rechnen, selbst bei der Mehrheit der Leute, die Kim Il Sung verabscheuten. Aber jetzt, da nicht mehr die Generäle Südkorea regieren, ist das nicht länger gewährleistet. So wie jüngere koreanische Einwohner in Japan „japanisiert“ werden, verlieren die Südkoreaner ihre Sympathien für die radikalen Nationalisten und ihre Vision von der „nationalen Befreiung“.
Einer der großen koreanischen Mythen, der auf beiden Seiten der entmilitarisierten Zone ständig beschworen wird, lautet, die Koreaner seien seit ältesten Zeiten ein geeintes, homogenes Volk gewesen – „5.000 Jahre“, lautet gewöhnlich die übertreibende Formel. Zum Mythos gehört, daß die Einheit des minjok nur durch fremde Mächte gefährdet worden sei. In Wirklichkeit war die koreanische Einheit, wie jede seriöse Geschichte des Landes zeigt, häufig nicht mehr als bestenfalls ein trügerischer Traum. Gegen Anfang seines Buches „Troubled Tiger: Businessmen, Bureaucrats and Generals in South Korea“ (Verlag M.E. Sharpe) geht Mark Clifford über zweitausend Jahre zurück, in die Zeiten, als die koreanische Halbinsel in drei rivalisierende Königreiche geteilt war: Silla im Südosten, Kogurjo im Norden und Paekche im Südwesten. Das scheint ein recht seltsamer Beginn für die Beschreibung südkoreanischer Politik und Wirtschaft, aber er hat recht, wenn er uns daran erinnert, wie zerrissen die koreanische Geschichte immer war. Er hat außerdem recht mit der Beobachtung, daß Spuren der rivalisierenden Königreiche noch heute in der koreanischen Politik zu finden sind.
Das erste Königreich, unter dem die Halbinsel geeint wurde, war Silla (57 vor bis 935 nach Christus), dessen Hauptstadt Kwangju in der heutigen Provinz Kyongsang lag. Nach einer langen Reihe von Palastrevolutionen, Morden und Kriegen eroberte das nördliche Königreich Korjo, das an die Stelle von Kogurjo getreten war, die Halbinsel. Seine Hauptstadt war Kaesong, unmittelbar nördlich der gegenwärtigen entmilitarisierten Zone. Das letzte Königreich, unter dem Korea vereint war, war die Dynastie von Chosun oder Yi, die von 1832 bis 1910 herrschte, und danach übernahmen die Japaner die Macht. Die Hauptstadt von Chosun war Seoul.
Das wäre ja alles recht akademisch, wären da nicht die folgenden Tatsachen: sämtliche Generäle und Geschäftsleute, die in Südkorea an die Macht oder zu Reichtum kamen, stammten aus dem nördlichen Kyongsang, dem Land Sillas. Kim Young Sam ist der erste Präsident, der aus dem südlichen Kyongsang stammt. Das Kernland politischer Rebellion ist Cholla, das alte Paekche. Kim Dae Jung, der Dissidentenführer, der bei den Präsidentschaftswahlen von 1992 unterlag, kommt von dort. Kwangju, die Stadt des Massakers an Hunderten Studenten, die 1980 nach der Verhaftung von Kim Dae Jung an einem Volksaufstand teilgenommen hatten, liegt in Cholla. Die wirtschaftliche Entwicklung Südkoreas konzentrierte sich auf Kyongsang. Die Leute aus Cholla gelten als schlau, streitsüchtig, nicht vertrauenswürdig: die großen Konzerne stellen noch immer nicht gern Leute aus Cholla ein, und die meisten Eltern in Kyongsang würden ihre Söhne und Töchter niemanden aus Cholla heiraten lassen. Cholla-Aktivisten konnten daher das Establishment von Kyongsang am besten ärgern, indem sie sich für Kim Il Sung begeisterten, den Erben der Dynastien von Kogurjo und Korjo (Paekche und Kogurjo – mit der Hauptstadt Pjöngjang – waren schon einmal Verbündete in einem Krieg gegen Silla, im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung). Es dürfte daher keine Überraschung bilden, daß das vereinte Korea, wie es von Pjöngjang vorgeschlagen wird, den Namen Demokratische Bundesrepublik Korjo tragen soll.
Vereinigung war niemals ein friedlicher Prozeß. Und die Politik der gewalttätigen Eroberung blieb im Strom der Dynastien bemerkenswert gleich. Ein Königreich setzte entweder eine Großmacht ein, China in den meisten Fällen, um ein anderes zu erobern, oder es begann eine Invasion, um das rivalisierende Königreich von einem ausländischen Unterdrücker zu befreien, ebenfalls meistens China. So eroberte Silla zum ersten Male Kogurjo mit Hilfe von T'ang-Soldaten – und dann Paekche, um die T'ang-Armeen zu vertreiben. Das ist auch die Geschichte des letzten Korea-Krieges, von 1950 bis 1953.
Im August 1994 führten mich zwei koreanische Freunde in ein Restaurant in Seoul. Die Spezialität waren kalte Nudeln im Pjöngjang-Stil, und die Gäste waren alte Männer, die in den vierziger und fünfziger Jahren aus dem Norden geflohen waren. An den kahlen weißen Wänden hingen verblaßte Fotografien von schönen Landschaften des Nordens und von Pjöngjang vor seiner Zerstörung im Korea-Krieg. Das Lokal erinnerte mich ein bißchen an Bierhallen in Bayern, in denen ehemalige Sudetendeutsche und Schlesier von den alten Zeiten schwärmen. Dies sind die Menschen, die von einer Wiedervereinigung am meisten zu erhoffen hätten: sie haben Erinnerungen und Familien; sie wollen ihr Geburtsland wiedersehen.
Aber bei meinen Freunden konnte ich solche Sehnsüchte nicht entdecken; beide kommen aus Familien des Südens. Der eine war während des Korea-Kriegs noch ein Kind, der andere noch gar nicht geboren. Der ältere sagte, er habe kein Interesse daran, den Norden zu besuchen. Er sprach wie viele Westdeutsche 1989; er fühlte sich wohl als Bürger der Republik Korea; der Norden war brutale, primitive Provinz. Der jüngere meinte, er würde sich den Norden gern einmal ansehen; er habe gehört, es sei dort sehr schön. Bald wandte sich das Gespräch anderen Themen zu: eine neue Theaterinszenierung mit Nuditäten, die in Seoul für einiges Aufsehen gesorgt hatte; eine Auseinandersetzung zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Herausgeber einer neuen koreanischen Ausgabe von Penthouse; die Auswirkungen einer sengenden Dürre auf Kim Young Sams Beliebtheit und so weiter.
Es gibt jedoch durchaus praktische Interessen an Nordkorea. Ich traf einen jungen Geschäftsmann, der an der Gründung von Textilfabriken in Nordkorea für einen südkoreanischen Konzern mitgearbeitet hatte. Andere Firmen tun das gleiche. Sie richten dazu Strohfirmen in Hongkong oder Macau ein. Der Leiter dieser Firmen ist gewöhnlich ein Korea-Amerikaner oder Chinese, mit Zugang nach Nordkorea. Maschinerie wird über China in die Fabriken transportiert, im Austausch für die Endprodukte, die dann im Süden mit Verlust verkauft werden. Südkoreanische Firmen sind so erpicht darauf, von einer eventuellen Öffnung des Nordens zu profitieren, daß es ihnen nichts ausmacht, vorerst Geld zuzusetzen.
Ich fragte den Geschäftsmann – der wie jeder aufstrebende junge Karrieremacher in Europa oder den USA wirkte: modischer Anzug, Armani-Sonnenbrille – wie das wäre: Geschäfte mit dem Norden zu machen. Worüber sprachen sie dabei? Übers Geschäft, sagte er, einfach übers Geschäft. Mehr hatte er nicht zu sagen. Er zeigte kaum Neugier auf andere Aspekte des nordkoreanischen Lebens. Ich fragte ihn, wie die nordkoreanischen Arbeiter seien. Arbeiteten sie schwer? Dann lieferte er mir eine Definition nationaler Identität, die wenig zu tun hatte mit der romantischen Sehnsucht nach Koreanertum, wie sie von einigen Intellektuellen und Chosen-Soren- Sprechern vorgetragen wird. Er sagte: „Nein, hart gearbeitet wird dort nicht. Nordkorea ist schließlich kommunistisch. Aber wir sind alle Koreaner, also denken wir gleich. Sobald die im Norden Geld wittern, werden auch sie schwer arbeiten.“
In einer idealen Welt wird also die Zukunft der koreanischen Halbinsel dem Vorschlag der südkoreanischen Regierung entsprechen: Gespräche und Vereinbarungen, daß der Norden keine Atomwaffen herstellen wird, dann eine friedliche und vorübergehende koreanische Staatengemeinschaft; und schließlich eine friedliche und demokratische koreanische Republik. In einer idealen Welt werden südkoreanische Firmen von einer fügsamen, billigen, schwer arbeitenden Arbeiterschaft im Norden profitieren. Im Idealfall wird sich der Norden stärker öffnen und wohlhabender werden, bis hin zu dem glücklichen Tage, an dem die beiden Koreas nahtlos ineinander aufgehen können. Die Alternative, wenn wir den Bürgerkrieg (nicht völlig unmöglich) einmal außer acht lassen, wäre der Zusammenbruch des Nordens, gefolgt von der „deutschen Lösung“, die in Korea als „hupsu t'ong'il“ bezeichnet wird, Einheit durch Verschlucken. Ein solcher Zusammenbruch ist keineswegs unwahrscheinlich. Die Industrie im Norden ist angeblich nur zu einem Drittel ihrer Kapazitäten ausgelastet; es herrscht ein bedenklicher Mangel an Brennstoff und Energie; die Nahrungsmittelversorgung funktioniert so schlecht, daß angeblich viele Menschen Hunger leiden.
John Y.T. Kuark, ein Ökonom, der als Berater für Chun Doo Hwan und Roh Tae Woo arbeitete, sagte mir, wieviel es den Süden seiner Meinung nach kosten werde, den Norden zu schlucken. Südkorea würde über fünf bis zehn Jahre bis zu 500 Milliarden Dollar zahlen müssen, zweimal soviel wie Südkoreas jährliches Bruttoinlandsprodukt umfaßt. Die Vereinigung hätte mit Sicherheit höhere Steuern im Süden zur Folge, und wahrscheinlich auch abstürzende Grundstückspreise, soziale Unruhen und ein enormes Flüchtlingsproblem an der chinesischen Grenze wie auch im Süden – das heißt, wenn die Grenze zwischen Norden und Süden geöffnet würde. Und es ist schwer zu sehen, wie man dieses Land bei geschlossenen Grenzen „vereinigen“ könnte.
Die südkoreanische Regierung setzt sich nicht gern mit der Möglichkeit einer Vereinigung im deutschen Stil auseinander. Sie möchte sie noch nicht einmal als Möglichkeit erwähnen. Und wer glaubt, die schrittweise, friedliche Wiedervereinigung sei ein Traum, wird als lästige Kassandra betrachtet, oder sogar als Falke vom rechten Flügel – die Trennung zwischen rechts und links hat in Korea mehr mit der Einstellung zur Nordfrage zu tun als mit der Wirtschaftstheorie. Die berühmteste Kassandra ist Cho Gap Je, Herausgeber des Monthly Chosun, einer einflußreichen politischen Zeitschrift.
Cho sprach geradeheraus. Kim Il Sung und Kim Jong Il, sagte er, seien „Feinde, Teufel“. Es bringe überhaupt nichts, fuhr er fort, von „Frieden mit Diktatoren“ zu sprechen. Die Vorstellung einer friedlichen Vereinigung, glaubt er, sei „reine Selbsttäuschung“, und die Vorstellung, es könne noch lange dauern bis zur Vereinigung, sei ein Zeichen des „kollektiven Egoismus“. Er hält es für „besser für den Norden, wenn er sofort zusammenbricht“. Er sagte: „Ich glaube, der Wille zur Vereinigung sollte stärker sein als die egoistische Furcht vor ihren Kosten.“ Cho ist ein typisch koreanischer Nationalist: Sein Ekel vor der Art, wie Korea regiert wird, grenzt schon an Selbsthaß. Er schrieb in seiner Zeitschrift, seit Silla vor 1.300 Jahren die Nation im Kampf gegen die chinesische Armee geeint habe, werde Korea regiert von einer „Klasse von Menschen, die es nicht gewohnt sind, ihr Leben um der Ehre einzelner oder des Volkes (minjok) willen aufs Spiel zu setzen.“ Deshalb sei Korea immer „von anderen Ländern verachtet“ worden. Schwach und verachtet habe Korea das Ausland zu Provokationen herausgefordert. Und das, argumentiert Cho, sei der Grund, warum Südkorea heute von Nordkorea verachtet und provoziert werde. Seiner Meinung nach tragen Handel, Gespräche und Investitionen im Norden nur dazu bei, das nordkoreanische Regime länger am Leben zu halten.
Das ist wirklich starker Tobak. Falkenhaft, könnte man sagen, und genauso emotional wie der Nationalismus der radikalen Studenten. Aber Cho war einer der wenigen Menschen, denen ich in Seoul begegnete, die die Nordpolitik moralisch betrachteten. „Es ist eine moralische Frage“, sagte er. „Wir müssen das nordkoreanische Volk retten.“ So etwas hatte ich vorher nicht gehört. In anderen Gesprächen wurde das Schicksal des nordkoreanischen Volkes beiseite gewischt, als sei es besser, wenn es noch ein bißchen unter Kims Diktatur litte, während die Leute aus dem Süden jeden Tag reicher wurden. 1992 hielten in einer Umfrage in Südkorea nur vier Prozent der Antwortenden die Wiedervereinigung für dringend. Auch das erinnerte mich an Deutschland vor dem Fall der Mauer. Ich fand Cho ziemlich bewundernswert.
Aber dennoch verfehlt er vielleicht den Punkt einer erstaunlichen Wandlung in Südkorea. Es mag nicht sehr erbaulich sein, daß die meisten Südkoreaner lieber keinen hohen Preis für das Schlucken des Nordens zahlen möchten. Man mag es sogar als schändlich betrachten, daß viele und möglicherweise die meisten jungen Südkoreaner sich weniger um die Wiedervereinigung ihres Vaterlandes kümmern als um Jobs, Autos, Sex oder Urlaubsreisen. Es ist mit Sicherheit nicht heroisch, wenn die Regierung die Möglichkeit traumatischer und gewaltsamer Veränderung ausschließt. Vielleicht ist es noch nicht einmal patriotisch, aber es ist ein Hinweis, denke ich, daß Südkorea endlich jeder anderen Demokratie ähnlicher wird.
Aus dem Englischen
von Meinhard Büning
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