INTERVIEW: Internationale Ordnung und „internationale Hölle“ aus kurdischer Sicht
■ Interview mit Falakedin Karkai, Mitglied des Politbüros der Demokratischen Partei des irakischen Kurdistan/ Szenarien für die „Nachkriegsordnung" und die Zukunft des Irak
Falakedin Karkai, persönlicher Beauftragter des Parteivorsitzenden Massud Barzani, kam letzte Woche direkt aus Kurdistan nach Beirut, wo er an dem Kongreß der irakischen Oppositionsparteien teilnahm.
taz: Die irakische Opposition tut so, als sei das halbe Land befreit, die Regierung dementiert. Wo liegt die Wahrheit?
Falakedin Karkai: Es war zunächst ein spontaner Aufstand, eine Reaktion auf die Bombardements des Krieges, die Zerstörungen, die Toten, die Verletzten. Die militärische Niederlage hinterläßt psychologische Spuren. Aufgrund der gegen den Irak verhängten Sanktionen und des Kriegs herrscht Hunger. Es gibt keine Lebensmittel, es gibt kein Wasser, die medizinische Versorgung ist völlig zusammengebrochen. Das Strom- und Wassernetz ist zerstört, es gibt keine Heizmaterialien, das Transportsystem funktioniert nicht mehr. Die Leute sind völlig verzweifelt, vor allem, nachdem klar war, daß das Ende des Krieges nicht die Aufhebung der Sanktionen bedeutet.
Nach Kriegsende gab es Streiks und Demonstrationen in fast allen irakischen Städten. Die Demonstranten wurden aus Hubschraubern beschossen, aber sie machten trozdem weiter. Dort, wo die Opposition Einfluß hat, wie in Kurdistan, gelang es, den Aufstand fortzusetzen. Rania fiel, Schanschanal, Kalar. Die Repräsentanten der Staatsmacht flohen oder wurden gefangengenommen. Auch in den Zwangsumsiedlungsprojekten wurde demonstriert. Denn es gibt kaum noch Dörfer in Kurdistan, die meisten wurden zerstört, die Bauern vertrieben. Inzwischen kontrolliert die Opposition ein Gebiet von ca. 25.000 Quadratkilometern, in dem zwischen 1 und 1,5 Millionen Leute leben. Der Widerstand kontrolliert die wichtigsten Verkehrsverbindungen, z.B. die Straße von Suleimania nach Bagdad.
Es gab sehr widersprüchliche Informationen darüber, ob Suleimania befreit ist oder nicht.
Man kann sagen, daß die Bewohner und die Peshmergas faktisch die Kontrolle über die Stadt ausüben, aber nicht die Verwaltung kontrollieren. Technisch gesehen ist das nicht einfach. Suleimania hat 760.000 Einwohner, und wir sind zur Zeit nicht in der Lage, die Lebensmittelversorgung von so vielen Leuten zu bewerkstelligen.
Gibt es eine Zusammenarbeit der Oppositionsgruppen innerhalb des Landes?
Ja, wenigstens in Kurdistan. Die Kurdische Front (ein Bündnis mehrerer Kurdenparteien, d.Red.) hat eine Führung vor Ort, die von unserem Parteivorsitzenden Massud Barzani geführt wird. Für die Verwaltung der befreiten Gebiete gibt es Komitees, an denen alle Oppositionsgruppen beteiligt sind.
Was für Probleme haben Sie dabei?
Wir haben Kader, wir können organisieren. Was uns fehlt, sind Lebensmittel und Medikamente. Deswegen unser Ruf an die Welt mit der Bitte um Hilfssendungen.
Gibt es eine Koordination der Aufstände im Süden und in Kurdistan?
Bisher nicht. Obwohl die Gründe für beide Revolutionen dieselben sind. Wir haben versucht, auf dem Kongreß die Grundlagen für eine Koordination zwischen Norden und Süden zu legen.
Jalal Talabani, der Vorsitzende der Patriotischen Union Kurdistans, hat während des Kongresses bestätigt, daß er sich in der ersten Märzwoche mit Vertretern des türkischen Außenministeriums getroffen hat. Fallen die irakischen Kurden damit nicht ihren unter türkischer Herrschaft lebenden Landsleuten in den Rücken?
Die Kurdische Front hat schon vor Monaten den Beschluß gefaßt, bei allen offiziellen Gesprächen, mit wem auch immer, das Kurdenproblem in der Türkei zur Sprache zu bringen. Es kann nicht in unserem Interesse sein, Kontakte auf Kosten der türkischen Kurden zu pflegen. Nicht nur Talabani war in Ankara, an dem Treffen war auch ein Führungsmitglied unserer Partei beteiligt. Wir haben bei den Gesprächen von den Türken gefordert, die Grenzen für Lebensmittellieferungen in die befreiten Gebiete zu öffnen. Das hat für uns zur Zeit Priorität.
Die Türken hatten natürlich andere Motive. Sie haben Angst, daß der Kurdenaufstand auch auf Türkisch-Kurdistan überschwappen könnte, und wollten sichergehen, daß sich die irakischen Kurden nicht in innertürkische Angelegenheiten einmischen. Zweitens wollten sie den Kurden in der Türkei demonstrieren, wie 'kurdenfreundlich‘ sie sind und gleichzeitig der EG vormachen, daß sie die Menschenrechte respektieren. Der Weg Ankaras nach Brüssel führt über den Irak.
Während des Krieges haben viele arabische Staaten ihre Angst vor türkischen Gebietsansprüchen auf Irakisch-Kurdistan geäußert.
Die Türkei hat immer gesagt, daß sie, wenn in Irakisch-Kurdistan ein unabhängiger Staat entstehen sollte, militärisch eingreifen wird. Aber die Angst ist nach dem Krieg geringer geworden. Denn erstens haben die irakischen Kurden sehr deutlich gesagt, daß sie eine Lösung innerhalb des Irak wollen, und zweitens war der Grund für den Golfkrieg, daß der Irak gewaltsam die Grenzen zu Kuwait geändert hat. Die Tükrei wird sich heute nicht das gleiche erlauben können.
Wird die Opposition, falls sie an die Macht kommen sollte, die aus dem Krieg resultierenden Verpflichtungen übernehmen?
Wir würden die internationale Staatengemeinschaft auffordern, dem Irak den Wiederaufbau zu ermöglichen, statt ihn noch weiter zu zerstören. Wir fordern, daß die Staaten wie die USA, Großbritannien, aber auch arabische Länder wie Ägypten, die verantwortlich für die Zerstörungen sind, auch für den Wiederaufbau Verantwortung tragen.
Amerikanische Truppen stehen im Süden des Irak. Hilft das dem Widerstand?
Manche Iraker sagen, solange die amerikanischen Truppen im Land stehen, müssen wir uns darauf konzentrieren, sie aus dem Land zu werfen. Dann können wir gegen das Regime kämpfen. Aber die meisten Leute machen das Regime für die amerikanische Truppenpräsenz verantwortlich. Natürlich fordern wir, daß die Amerikaner so schnell wie möglich das Land verlassen.
Wie stellen Sie sich eine zukünftige Sicherheitsordnung am Golf vor?
Das hängt von vielen Dingen ab. Einerseits ist bislang völlig unklar, wie die zukünftige internationale Ordnung aussieht. Soweit man überhaupt von internationaler Ordnung sprechen kann. Ich sage immer internationale Hölle — wenn man sich die Zerstörungen in unserem Land anguckt, die Blutbäder, oder wie die Völker in unserer Region gegeneinander aufgehetzt werden. Zweitens hängt das von den inneren Ordnungen der Länder ab. Solange es keine Demokratie in den Golfändern gibt, werden sie innenpolitisch nicht stabil sein, und solange sie innenpolitisch nicht stabil sind, wird die Region nicht stabil sein. Jede zukünftige Ordnung hängt ab von den politschen Freiheiten innerhalb der Länder, einem Mindestmaß an nationaler Unabhängigkeit und von der Lösung der sozialen Probleme wie Armut, Inflation.
Wieviel Zeit geben Sie Saddam Hussein?
Vielleicht fünf Jahre. Es ist sehr schwer, Prophezeiungen abzugeben. Ich weiß, daß die meisten Oppositionellen so etwas nicht hören wollen. Der Aufstand hat das Regime erschüttert, aber ich glaube nicht, daß er Saddam Hussein zu Fall bringen wird. Vielleicht manövriert Saddam Hussein und versucht, einen Teil der Opposition für sich zu gewinnen und einige der innenpolitischen Probleme zu lösen. Vielleicht fällt Saddam, aber das Regime bleibt an der Macht.
Ich denke, es gibt zwei Szenarios. Entweder ein Militärputsch mit etwas demokratischer Kosmetik. Oder Saddam manövriert herum, söhnt sich mit einigen arabischen Staaten wieder aus, und Amerika kommt zu dem Entschluß, daß es durchaus mit einem schwachen Saddam leben kann. Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, daß das irakische Volk dieses Regime noch lange ertragen kann. Aber es wird den Widerstand teuer bezahlen müssen. Ich persönlich befürchte ein Blutbad im Irak.
Es gibt Faktoren, die für einen Sturz Saddam Husseins sprechen: die Niederlage, die wirtschaftliche Situation, die Wirtschaftssanktionen, die wachsende Opposition. Und es gibt andere Faktoren, die gegen einen Sturz des Regimes sprechen. Das ist vor allem der Unterdrückungsapparat. Letztlich wird das, was international beschlossen wird, für das Überleben Saddams entscheidend sein. Interview: Leila Burhani, Beirut
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