INTERVIEW: Die Atomwirtschaft stellt die Weichen
■ Sebastian Pflugbeil bemängelt, daß die westdeutsche und -berliner AKW-Bewegung die Bedeutung der Standorte der AKWs Greifswald und Stendal unterschätzen
Sebastian Pflugbeil, 43 Jahre alt, sitzt zusammen mit drei anderen Mitgliedern des Neuen Forums im Abgeordnetenhaus. Der Physiker hatte 20 Jahre an der Akademie der Wissenschaften der DDR gearbeitet und engagierte sich gegen Atomwaffen und Atomkraftwerke.
taz: Die Berliner Anti-AKW-Bewegung hilft vor allem den Opfern von Tschernobyl. Warum konzentrieren sich die Aktivitäten inzwischen fast ausschließlich auf Belorußland — gibt es bei uns keine Atomlobby mehr, der man das Leben schwermachen sollte?
Sebastian Pflugbeil: Seit Tschernobyl hat es in der DDR unter dem Dach der Kirche — gerade in Berlin — Überlegungen gegeben, die das ganze Problem betreffen. Es ging explizit um die AKWs in Greifswald und Stendal. Das Bewußtsein ist auch heute noch vorhanden — wir haben erst gestern im Abgeordnetenhaus zu diesem Thema Anträge gestellt. Es gibt eine Studie über die Auswirkungen einer schweren Kernkraftwerkskatastrophe in Greifswald und Rheinsberg, die das Ökoinstitut Darmstadt für den Umweltsenat angefertigt hat. Bis heute ist dazu nichts zu hören ...
... Die Blöcke sind ja auch abgeschaltet.
Ja, zwar läuft in Greifswald keiner der vier alten Blöcke, aber sie haben immer noch eine Betriebsgenehmigung, und für den fünften — neueren — Block gilt noch immer eine Inbetriebnahmegenehmigung. Und daß, obwohl gegen die Genehmigungen Sicherheitsbedenken sprechen und das Atomgesetz dagegen steht, weil die Haftpflichtversicherung von 500 Millionen Mark für keinen Block nachgewiesen werden konnte. Die Regierung von Mecklenburg-Vorpommern ist gezwungen, diese Genehmigungen zurückzunehmen — hat das aber bisher nicht getan. Mit unseren Anträgen wollen wir erreichen, daß Berlin Druck macht.
Hat die Atomwirtschaft etwa ernsthaftes Interesse, in die Schrottreaktoren auch nur eine Mark zu investieren?
Offiziell wird noch nicht darüber geredet. Wir wissen aber verbindlich, daß Siemens den Bau sogenannter Konvoianlagen für Greifswald und Stendal vorbereitet. Das wären Neubauten. Darüber hinaus gibt es Überlegungen, am Block V exemplarisch zu zeigen, daß man russische Kernkraftwerkstypen salonfähig machen kann. Siemens möchte dann mit dem Know-how in den osteuropäischen Markt vorstoßen. Die grundsätzlichen Sicherheitsprobleme könnten damit nicht gelöst werden, aber für Siemens wäre das ein Bombengeschäft.
Offenbar haben sich diese Pläne noch nicht herumgesprochen. Die Akw-Initiativen haben weder für heute noch für morgen eine Demonstration auf die Beine gestellt.
Wir haben zum Tschernobyl-Jahrestag vor vierzehn Tagen eine große Konferenz gemacht. Bei einem Treffen von west- und ostdeutschen Atom-Initiativen in Stendal am letzten Wochenende hat sich aber gezeigt, daß es den Wessis schwerfällt zu verstehen, daß im Moment die Weichen gestellt werden. Davon hängt nicht nur das Schicksal der Arbeiter in Greifswald und Stendal ab, sondern auch, was in Deutschland und sogar in ganz Osteuropa in den nächsten Jahrzehnten auf dem Kernenergiesektor passiert. Deshalb ist es dringend erforderlich, alle verfügbaren Kräfte auf die Schlüsselstellung der AKWs in Greifswald und Stendal zu konzentrieren. Den Initiativen vor Ort muß geholfen werden. Aber es gibt nur ganz wenige Leute, die in die Hände spucken.
Warum nur wenige Leute?
Offensichtlich haftet jede Initiative an ihrem lokalen Problem und ist sehr wenig bereit, Kräfte oder Finanzen in eine Sache zu stecken, die relativ weit weg ist und für den eigenen Verein nur wenig Publikumswirkung hat.
Siemens setzt auf Publikumswirkung. Zwei Busse des Atomkonzerns fahren mit bunten Broschüren in Greifswald und in Stendal herum.
Wir werden an Greenpeace die Bitte wiederholen, Anti-AKW-Busse zu finanzieren. Die finanzstarke Organisation müßte den Sinn solcher Ausgaben sofort verstehen. Interview: Dirk Wildt
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