INTERVIEW: „Was wir brauchen, ist eine kollektive Eingreiftruppe unter dem Dach der WEU“
■ Der Friedensforscher Ulrich Albrecht über adäquate Konfliktregelungsmechanismen und den Beispielcharakter, die diese für künftige Konflikte in Osteuropa haben könnten
taz: Herr Albrecht, der mögliche Einsatz von UNO- Truppen in Jugoslawien hat offenbar doch eine realistische Aussicht auf Verwirklichung...
Ulrich Albrecht: Nun, auch dieser Waffenstillstand ist nach wie vor brüchig. Es ist aber nicht auszuschließen, daß jetzt Blauhelme zum Einsatz kommen. Allerdings gibt es Schätzungen etwa der Bundeswehr, daß zur wirksamen Kontrolle eher 30.000 Mann benötigt werden.
Das heißt also, daß 10.000 einfach zu wenig sind?
Auf jeden Fall! Andererseits sind 30.000 Soldaten eine Größenordnung, für die die Vereinten Nationen gar nicht gerüstet sind — noch nicht mal finanziell.
Und welche Konsequenzen hat das?
Daß mit unzureichenden Mitteln versucht wird, diesen Waffenstillstand zu stabilisieren. Und daß nicht nur eine politisch schwierige, sondern auch in Schießereien sich fortsetzende Auseinandersetzung zu erwarten ist.
Der Erfolg dieses 15. Waffenstillstands hängt ja nicht zuletzt davon ab, ob es der Bundesarmee gelingen wird, die Freischärlerverbände zu entwaffnen. Das ist ein Punkt, der in der Vereinbarung festgehalten worden ist. Glauben Sie, daß, auch wenn es zu Provokationen gegenüber UNO-Truppen kommen sollte, die Weltmächte über den notwendigen langen Atem verfügen werden, die Truppen gegebenenfalls zu verstärken?
Ich bin da eher skeptisch. Die Situation läßt sich fast schon vergleichen mit den Anfängen der Weimarer Republik in Deutschland, wo wir auch große, zum Teil schwerbewaffnete Verbände hatten, die sich nicht entwaffnen ließen. In Jugoslawien kommt die Tradition des Partisanenkrieges, des Bürgerwiderstandes noch hinzu, die ja über die vergangenen Jahrzehnte auch mit dem Volkskriegskonzept gepflegt worden ist.
Auf der anderen Seite läßt sich ein Waffenstillstand auf Dauer wohl kaum anders als durch UNO-Truppen etablieren. Serbiens Kalkül ist dabei, daß es versucht, die eroberten Gebiete über Volksabstimmungen für sich zu beanspruchen. Auf der anderen Seite versucht die kroatische Regierung natürlich, diese Gebiete wieder zurückzubekommen. Beide erhoffen sich Rückendeckung durch die internationalen Organisationen. Haben Sie eine Vorstellung, welche politischen Instanzen ins Auge gefaßt worden sind, um einen Konfliktregelungsmechanismus zu etablieren?
Sicher ist auf jeden Fall, daß die vorhandenen Mechanismen nicht ausreichen. Zu fordern wäre, daß die Mechanismen, die in der UNO-Charta verankert sind, erst einmal voll zur Entfaltung kommen. So ist beispielsweise das UNO-Militärkomitee wegen des Ost-West-Gegensatzes praktisch unfähig gewesen. Wenn man diese Instanz zu diesem Zeitpunkt als internationale Truppe aufbauen würde, dann hätte man ein Instrument, das viel anerkannter wäre als Friedenstruppen.
Ein Problem wird auch sein, daß nun die kroatischen Flüchtlinge zurückkehren. Kann denn die UNO diese Rückkehr überhaupt garantieren?
Sie könnte es theoretisch, aber sie müßte dann wesentlich mehr Aufwand treiben. Vor allem, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt, steigt der Bedarf an Ordnungstruppen, um die Kampfhähne auseinander zu halten. Dann redet man nicht mehr von 20.- oder 30.000 Bewaffneten, sondern für diesen Fall belaufen sich die Schätzungen auf etwa 300.000 Mann.
Zurück zu den Konfliktregelungsmechanismen. Ich bin skeptisch, daß eine untergeordnete Kommission, also eine, die nicht von den Weltmächten getragen ist, überhaupt eine Schiedsrichterrolle einnehmen kann, denn der politische Druck wird außergewöhnlich stark sein — und zwar von allen Seiten. Einer solchen Instanz muß man doch weit mehr Gewicht beimessen...
Wir stehen in der Tat an der Schwelle der Weiterentwicklung von Völkerrechtsgrundsätzen. Minderheiten müßten ein qualifiziertes Appellationsrecht haben, entweder an eine gesamteuropäische Instanz — da ließe sich sicher der Europarat entsprechend instrumentieren — oder aber an entsprechende Einrichtungen der Vereinten Nationen wie etwa den Sicherheitsrat.
Könnte der Konfliktregelungsmechanismus, der jetzt in Gang gesetzt werden muß, auch eine Vorform dessen sein, was einmal in anderen Ländern Osteuropas angewandt werden könnte?
Das genau macht ja das Erschreckende der Jugoslawien-Krise aus, daß wir im Moment den Zerfall und das neue Entstehen von 20 bis 30 Staaten im östlichen und südlichen Europa beobachten. In den meisten dieser Staaten gibt es ethnische Minderheiten, gibt es wechselseitige Ansprüche auf Territorien. Und es ist zu befürchten, daß besonders wenn die Wirtschaften dort weiter stagnieren, diese Gegegensätze eben nicht friedlich beigelegt werden. Und durch das Flüchtlingsproblem wird auch der Westen davon nicht unbehelligt bleiben.
Könnte also die Situation in Jugoslawien Vorbildcharakter haben für die Lösung künftiger Auseinandersetzungen in der ehemaligen Sowjetunion?
Es geht in der Tat um Krisenbeherrschungsstrukturen, die übertragbar sein müssen. Denn für die innersowjetischen Konflikte werden wir solche Instrumente bitter nötig haben. Im berühmten Europäischen Haus haben Nachbarn eben gewisse Verpflichtungen.
Wäre es nicht wünschenswert, ein Gremium zu schaffen, das funktionsfähig ist, hinter dem ein Potential steht, das schon im Vorfeld was entscheiden kann?
Wir wissen heute, daß wir für kriegerische Auseinandersetzungen in Europa neue Institutionen brauchen. Dabei ist nicht nur zu denken an militärische Repression, sondern auch an ein groß angelegtes Hilfskonzept. Aber wenn es brennt, dann sind sicher zunächst einmal militärische Mittel zur Beherrschung des Ganzen ins Auge zu fassen. Vielleicht gelingt es ja, so etwas wie eine europäische Friedenstruppe zu installieren, die der Westeuropäischen Union (WEU) unterstellt werden und die eine Art übernationale Polizeiaufgabe erfüllen könnte.
Stichwort WEU. Viele warnen, daß mit ihrem Einsatz den Europäern zuviel an Verantwortung zufällt...
Das Problematische an der WEU ist, daß hier an Soldaten gedacht wird. Was aber viel nötiger wäre, ist eine Art Polizeitruppe. Denn der Bürgerkrieg in Jugoslawien wird zumindest von der einen Seite her mit relativ geringwertiger Waffentechnologie geführt. Es geht nicht darum, eine hochtechnisierte Einsatzarmee der WEU heranzubilden. Angesichts der ethnischen Auseinandersetzungen ist eher zu denken an polizeiähnliche Mittel der Kontrolle. Interview: Erich Rathfelder
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