INTERVIEW: „Ausdruck schlechten Gewissens der Justiz“
■ Wolfgang Ullmann, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Grüne, zum Urteil
taz: Herr Ullmann, hat Sie das Urteil überrascht?
Ullmann: Nein, gar nicht. Nach der ganzen Art der Prozeßführung mußte es auf dieses Ergebnis hinauslaufen. Ich bin der Meinung, daß das Urteil Ausdruck des schlechten Gewissens der Justiz ist; im Hintergrund des Prozesses tauchten doch ständig hochbelastete Leute auf, die in einer merkwürdigen Unangreifbarkeit irgendwo auf der Welt herumschwirren, zum Teil sogar in Interviews ungeniert zu erkennen gegeben haben, daß sie überhaupt kein Unrechtsbewußtsein haben.
Hätte es denn überhaupt ein gerechtes Urteil geben können — oder ein Urteil, mit dem Sie hätten leben können? Es wurde immerhin ein Schütze, der nachweislich geschossen haben soll, zu drei Jahren verurteilt, eben weil er — so hat es der Richter genannt — Chris Gueffroy „hingerichtet“ habe. Finden Sie nicht, daß eine Bewährungsstrafe sich in einem solchen Fall einfach verbietet?
Natürlich. In diesem Fall hätte ein Urteil auf Bewährung eigentlich nur gebilligt werden können in Hinblick auf die beteiligten jungen Leute und deren spätere Biographie. Dem steht allerdings das Todesopfer gegenüber. Daß man einen versuchten Totschlag, der nicht im Affekt geschehen ist, sondern im vollen Bewußtsein der Verantwortung, mit Bewährung ahndet (im Falle des Angeklagten Kühnpast, d.Red.), ist freilich eine bedenkliche Angelegenheit.
Läßt sich überhaupt die DDR-Vergangenheit aufarbeiten, indem man Grenzsoldaten, die geglaubt haben, rechtmäßig zu handeln, den Prozeß macht?
Eine ganz schwierige Frage ist die nach dem „Geglaubthaben“. Ich bin der Meinung, daß man so etwas guten Gewissens einfach nicht glauben konnte. Wenn man wußte, was einen an dieser Grenze erwartete, und eben genau wußte, daß überall auf der Welt die Schüsse an der Grenze anders beurteilt wurden als hinter den Stacheldrähten der DDR-Grenze, dann überzeugt es mich nicht, wenn einer jetzt erklärt: Wir wußten doch nichts, hatten nur unsere Befehle. Das steht auch nicht im Einklang mit dem Lob, das es für solche „Sondereinsätze“ gab. Nun kann man natürlich sagen, diese jungen Leute sind falsch belehrt worden. Dennoch hätte man das alles wissen können und müssen, auch in der DDR. Unwissen ist hier kein Entschuldigungsgrund.
Wie, glauben Sie, wird dieses Urteil in den neuen Bundesländern aufgenommen werden?
Gefühlsmäßig würde ich sagen, vorherrschende Meinung wird sein: Die Urteile sind sehr milde ausgefallen, und die eigentlich Schuldigen werden nicht zur Verantwortung gezogen.
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