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INTERVIEW„Entwicklung zur zivilen Gesellschaft“

■ Die Ex-Comandante und Ex-Ministerin Dora Maria Tellez zur Situation in Nicaragua

Die 36jährige Dora Maria Tellez, prominenteste weibliche Comandante während der sandinistischen Revolution, danach Gesundheitsministerin und nach der scherzhaften Aussage von manchen „der einzige Mann in der Regierung“, ist heute Abgeordnete im nicaraguanischen Parlament und politische Sekretärin der Frente Sandinista in Managua. Auf Einladung von Solidaritätsgruppen weilte sie einige Tage in der Bundesrepublik.

taz: Haben Sie den Eindruck, daß Nicaragua hier in Europa schon vergessen ist?

Dora Maria Tellez: In Europa wird das, was derzeit im Osten passiert, viel wichtiger genommen. Das ist auch logisch. Hier gibt es generell wenig Information über Nicaragua und Lateinamerika. Von den Solidaritätsgruppen aber sind wir nicht vergessen worden, da gibt es immer noch Aktivitäten, auch wenn Solidarität schon vom Prinzip her niemals genügen kann. Gestern zum Beispiel haben wir überlegt, wieviele Deutsche als Brigadistas in Nicaragua waren. Das waren sehr viele, Tausende.

Viele Frauengruppen oder auch Radikalreformer wollten Sie vor dem Parteitag im letzten Jahr zur Kandidatin für das rein männliche neunköpfige nationale Direktorium der FSLN küren. Glauben Sie, daß Sie beim nächsten Parteitag 1994 bessere Chancen haben?

Ich glaube schon. Weil es mehr Bewußtsein im Hinblick auf die Notwendigkeit von weiblichen Kandidaten für das Direktorium und generell für die Frente gibt. Die Frauenbewegung ist stärker geworden.

Warum haben Sie die Kandidatur damals selbst zurückgestellt?

Weil wir uns auf dem Parteitag entschieden haben, die Kandidaten nur en bloc und im Konsens zu wählen. Und weil wir dachten, es sei wegen der politischen Stabilität in der Frente besser, möglichst wenig Veränderung im Direktorium zu haben.

Spürt auch die Frente die weltweite ideologische Krise der Linken?

Nein, eine ideologische Krise haben wir nicht. Man kann leichter in eine solche Krise kommen, wenn die politischen und sozialen Bedingungen einfacher sind. Aber in Nicaragua mit all seinen schwierigen Bedingungen liegt die Hauptarbeit der Frente darin, die Kämpfe der Arbeiter, der Bauern, der Bevölkerung insgesamt anzuleiten, um deren Probleme zu lösen. Wir sind nicht in einer Phase, wo wir uns fragen können: Was ist die philosophische Definition von Ideologie und von Sozialismus? Im Moment weiß niemand exakt, was das ist. Ein sozialistisches Modell zu entwerfen, das wird noch eine Menge Zeit kosten.

Wieviel Zeit? Der ostdeutsche Historiker Jürgen Kuczynski sprach neulich davon, es werde wohl noch 400 Jahre dauern, bis es eine neue Form von Sozialismus gibt.

Vielleicht ein bißchen weniger. 399 Jahre oder 255 oder 118 Jahre (lacht).

Sie haben gesagt, die Frauenbewegung sei gewachsen. Was ist mit den Frauenzentren, die schon unter der FSLN-Regierung entstanden?

Da gibt es eine ziemliche Dynamik. Die Frauenzentren, von denen es inzwischen etwa dreißig gibt, weiten sich inzwischen auf viele soziale Felder aus: weibliche Gesundheit, Eherechtsprobleme, Frauenforschung, Selbstverteidigung gegen Mißhandlungen, Organisation von Bäuerinnen und so weiter.

Und was ist der Grund für diese Dynamik?

Ich glaube, daß es in Nicaragua eine starke Entwicklung in Richtung zivile Gesellschaft gibt. Die Stärkung der Frauenbewegung ist aber auch das Resultat einer Entwicklung von vielen Jahren. Außerdem hat die Uno-Regierung viel soziale Unsicherheit produziert. Viele glauben nun, daß es unter dieser Regierung neuer Kraftanstrengungen bedarf, um progressive Ideen durchzusetzen.

Man darf also ein bißchen auf die Kraft der Frauen hoffen?

Aber ja doch. Interview: Ute Scheub

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