piwik no script img

INTERVIEWDie Lohnkosten sind nicht ausschlaggebend für den Abbau von Arbeitsplätzen

■ Dr.Helmut Wienert, Leiter der Forschungsgruppe Eisen und Stahl beim RWI in Essen, zur Lage der westdeutschen Stahlindustrie und zur Berechtigung der Lohnforderungen

taz: Herr Wienert, die IG-Metall will bei dem jetzt auszuhandelnden Stahltarifvertrag eine Angleichung an die Metallindustrie erreichen. Kann die Stahlindustrie das Lohnniveau der Metallindustrie verkraften?

Helmut Wienert: Diese Frage kann man durch eine volkswirtschaftliche Analyse nicht beantworten. Die Angleichung ist ja nur ein temporäres Phänomen. Es gab zwischen beiden Industrien schon immer Abweichungen. In den vergangenen Jahren ging es der Stahlindustrie deutlich schlechter als der Metallverarbeitung. Dadurch ist ein gewisser Abstand aufgebaut worden. Gestritten wird im Moment ja lediglich darüber, wie schnell die Angleichung sich vollziehen kann.

Ende der 80er Jahre wurde in der Stahlindustrie gut verdient. Auch jetzt schreiben die Unternehmen schwarze Zahlen. Wird da nicht bewußt schrill geklagt?

Ob zu schrill oder nicht, darüber wird viel debattiert. Wir selbst haben dazu keine Untersuchung vorgelegt und können deshalb mit einer wissenschaftlich fundierten Antwort auch nicht dienen. Richtig ist, daß es 1989/90 eine sehr günstige Entwicklung der Stahlkonjunktur mit entsprechend günstiger Gewinnentwicklung gab. Die Stahlindustrie gehört zu den stark zyklisch reagierenden Industrien. Gewinne steigen während des Booms überproportional, die Verluste in der Baisse jedoch auch. Man muß die Entwicklung also mittelfristig betrachten. Die Stahlindustrie hat schwere Jahre hinter sich. In diesen Jahren wurde die Kapitalsubstanz schwer angegriffen. Die Entwicklung 1989/90 hat dazu beigetragen, daß die sehr ungünstige Eigenkapitalstruktur wieder verbessert werden konnte. Zum Klagen hat die Stahlindustrie schon noch Grund. Aus meiner Sicht ist der Abstand zwischen Forderung und Angebot allerdings nicht so groß, daß man dafür unbedingt einen Streik führen müßte.

Ihr Institut hat soeben prognostiziert, daß in diesem Jahr das Produktionsniveau des Vorjahres erreicht wird. Für Ende des Jahres erwarten Sie sogar eine expansive Entwicklung. So schlecht sind die Aussichten doch offenbar nicht.

Momentan ist die Nachfrage auf den internationalen Stahlmärkten schwach. Die erhoffte Belebung zum Ende des Jahres steht noch aus. Wir setzen aber darauf, daß die internationale Konjunktur im Verlauf des zweiten Halbjahres so stark an Fahrt gewinnt, daß auch der Stahlverbrauch davon mit nach oben gezogen wird. Für die deutsche Stahlindustrie würden die Exportmärkte wieder aufnahmefähiger.

Die Prognosen im Stahlbereich waren oft falsch. Ich erinnere an die düsteren Vorhersagen während des Streites um die Stillegung der Krupp-Stahlhütte in Rheinhausen im Frühjahr 1988. Ein paar Monate später produzierte nicht nur Krupp an der Kapazitätsgrenze. Warum treffen die Prognosen oft nicht zu?

Die Stahlnachfrage hängt in einer äußerst sensiblen Art und Weise vom gesamtwirtschaftlichen Wachstum ab. Da gibt es eine Daumenformel, die etwa besagt, wir brauchen beim Bruttosozialprodukt (BSP) einen Zuwachs von rund 2,5Prozent, damit der Stahlverbrach stagniert. Wenn der Zuwachs des BSP aber um ein Prozent höher ausfällt, dann steigt der Stahlverbrauch schon um zwei Prozent. Steigt das BSP nur um 1,5Prozent, sinkt der Stahlverbrauch sofort um zwei Prozent. Relativ kleine Schwankungen beim BSP bewirken also relativ hohe Ausschläge beim Stahl. Wir rechnen jetzt damit, daß die Umfeldbedingungen für das Wachstum — und damit für den Stahlmarkt — in den 90er Jahren eher wieder günstiger sind als zu Beginn der 80er.

Wie hoch ist der Lohnkostenanteil in der Stahlindustrie?

Sie können für den engeren Stahlbereich grob mit einem Anteil von 20 bis 25Prozent rechnen.

Das heißt, eine Lohnerhöhung von vier Prozent würde sich etwa mit einem Prozent auf der Kostenseite niederschlagen?

So ist es, wenn die Kosten nicht durch Produktivitätssteigerungen aufgefangen werden können.

Wie sah die Produktivitätsentwicklung 1990/91 aus?

Die Produktivitätssteigerungen innerhalb der Stahlindustrie waren beachtlich. Während die Produktion in den letzten Jahren in etwa stagnierte, sank die Beschäftigtenzahl pro Jahr um rund fünf Prozent. Die Walzstahllieferungen je Beschäftigtenstunde stiegen sogar um rund sechs Prozent.

Also sind die vergangenen Lohnerhöhungen kostenneutral ausgefallen?

Die Lohnstückkosten sind nicht gestiegen. Das bedeutet allerdings in einer dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Branche gar nichts. Die Frage ist, wie sich die Lohnstückkosten bei den relevanten Wettbewerbern verändern — und die sind dort wegen der größeren Produktivitätssteigerung deutlich gesunken.

Wie geht das, wo doch das technische Niveau der westdeutschen Stahlindustrie Höchstanforderungen entspricht?

Nein, auch da muß man Abstriche machen. Vor zehn Jahren hätte ich Ihre Aussage noch vorbehaltlos unterschrieben, aber inzwischen haben wichtige Wettbewerber, z.B. British Steel, das deutsche Produktivitätsniveau erreicht und zum Teil auch überschritten. In Teilbereichen ist die Spitzenstellung der westdeutschen Stahlindustrie nicht mehr gegeben.

In den letzten Jahren hat sich die Einkommensverteilung insgesamt deutlich zu Lasten der Arbeitnehmer entwickelt. Gilt das auch für die Stahlindustrie?

Sie spielen auf die Lohnquote an, die wir ja nur gesamtwirtschaftlich berechnen können. Diese Quote ist in der Tat deutlich gesunken. Zur Situation in der Stahlindustrie läßt sich aber sagen, daß dieser Sektor in einem harten, scharfen internationalen Wettbewerb steht. Dieser Wettbewerb wird im Kern über den Preis ausgetragen, denn die Produkte der Stahlindustrie sind relativ homogen und technisch genormt, so daß ein Qualitäts- und Innovationswettbewerb nur bedingt möglich ist. In Teilbereichen sind die Preise seit 1990 um bis zu 40Prozent verfallen. Vergleichbares gibt es weder in der Automobilbranche noch im Maschinenbau. Von einer für die Verteilung zur Verfügung stehenden Gewinnexplosion kann daher im Stahlbereich nicht die Rede sein.

Ein Prozent mehr oder weniger Lohn führt aber gewiß auch nicht zur Kostenexplosion.

Richtig, das muß man ganz deutlich sehen. Die Kostenseite muß aber von den Unternehmen kontrolliert werden, um im Markt zu bleiben. Hohe Lohnkosten erfordern Anpassungen auf der Produktivitätsseite oder die Aufgabe von Teilmärkten. In beiden Fällen bedeutet das Arbeitsplatzverluste, denn das Erschließungspotential für neue Stahlmärkte ist vergleichsweise gering. Insgesamt sind die Lohnkosten aber sicher nicht ausschlaggebend für den Abbau von Beschäftigung. Entscheidener sind strategische Entwicklungen wie das Auftauchen von neuen Anbietern aus Schwellenländern. Brasilien exportiert z.B. Inzwischen acht Millionnen Tonnen pro Jahr. Hinzu kommt, daß die großen Stahlproduzenten von Seiten der sog. Ministahlwerke stark unter Druck gesetzt werden. In Westdeutschland halten sich Im- und Export inzwischen die Waage.

Wie stark wurde die Stahlindustrie durch den Streik 1978/79 getroffen?

Der Streik hat recht weh getan. Es gab erhebliche Produktionseinbrüche. Langfristig sind durch den Streik aber keine Kunden abgesprungen. Wenn Streiks als Mittel der Tarifauseinandersetzungen aber Usus würden, dann wären auch gravierende Kundenbewegungen zu erwarten. Das kann man sehr deutlich im US-Markt nachvollziehen. Als dort in den 60er Jahren die Tarifauseinandersetzungen relativ regelmäßig von Streiks begleitet waren, hat das zu einem dramatischen, nicht reversiblen Anstieg der Stahlimporte in die USA geführt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen