INTERVIEW: „So oder so unappetitlich“
■ Richard Schröder lehrt Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität/ Er war SPD-Fraktionsvorsitzender der DDR-Volkskammer
taz: Von der „Tribunal-Idee“ sind Wolfgang Ullmann, Friedrich Schorlemmer und Wolfgang Thierse inzwischen abgerückt. Nicht aber von der Vorstellung, man brauche ein Forum, um die DDR-Vergangenheit aufzuklären.
Richard Schröder: Um Strukturen zu erhellen — wie funktionierte das Erziehungswesen, wie ging es an der Grenze zu, wie in den Gefängnissen — halte ich Foren für sinnvoll. Vieles, was in der DDR geschah, war auch ihren Bürgern nicht bekannt. Auf diese Weise muß es gelingen, die erlebte Normalität und die Verhältnisse, die jetzt in den Medien als die Skandale der DDR-Geschichte erscheinen, in Beziehung zu setzen. Es ist ja beides Teil der Wirklichkeit: das Erlebte und das, was wir jetzt nachträglich erfahren.
Den Initiatoren geht es doch weniger um Strukturen als um individuelle Schuld und Verantwortung.
Maßstäbe für Gut und Böse aufzustellen, Täter und Opfer zusammenzubringen, damit sie sich verständigen — das sind romantische Erwartungen an eine öffentliche Veranstaltung. Dafür wäre ein angstfreier Raum nötig, und den wird die Öffentlichkeit nicht bilden. Wenn ernsthaft untersucht werden soll, muß es mit Mitteln der Justiz sein.
Aber das Problem ist doch gerade, daß man gegen die Verbrechen des SED-Staates rechtlich kaum eine Handhabe hat.
Die bisherigen Prozesse sind makaber. Aber ich bin überzeugt, daß auf der rechtlichen Ebene mehr geht, als bisher passiert ist.
Und die moralische Schuld?
Nachdem die DDR zusammengebrochen ist, rechtfertigt niemand mehr die Stasi, auch nicht die PDS. Das ist für mich ein Indiz, daß bestimmte Dinge nicht erst noch als unanständig erklärt werden müssen. Wir haben jetzt eher das Problem, nicht zu harte Maßstäbe anzulegen und zu berücksichtigen, daß Menschen auch verführbare Wesen sind.
Ist das nicht ein bißchen zu viel Zartgefühl?
Für Schweinereien, die nicht strafbar sind, kann man niemanden bestrafen. Aber in die Zeitung soll man es schreiben, damit wir wissen, was das für einer ist.
Also sollen sich diejenigen, denen Unrecht geschehen ist, ohne daß dies justitiabel wäre, einfach abfinden?
Öffentlich sind doch die Opfer anerkannt. Diese Genugtuung ist ihnen doch geschehen. Was will man jetzt eigentlich noch mehr? Man darf nicht verlangen, daß diesmal die Maßstäbe im Blick auf die Täter schärfer sind als sonst. Jetzt ist es besonders augenfällig, daß das Strafrecht grobmaschig ist. Und weil ein Phänomen massenhaft auftritt und vierzig Jahre betrifft, möchte man ein bißchen schärfer zupacken. Das kann dem Rechtsstaat nicht gut tun. Außerdem glaube ich nicht, daß das Strafrecht in Sachen Stasi überhaupt nicht greift. Ich gehe davon aus, daß wir noch einen großen Stasi-Prozeß bekommen werden. Das MfS hat sich ja auch an die eigenen DDR-Gesetze nicht gehalten.
Wie groß ist das Interesse der Bevölkerung an einem Forum?
Ich vermute, daß nur sehr wenige es herbeiwünschen. Es ist ja auch unangenehm, sich selbst dabei genauer zu betrachten.
Aber genau das wäre doch ein Argument dafür, so etwas unbedingt einzurichten, um kollektive Verdrängung zu erschweren.
Das kann man wünschen, aber offenbar nicht machen. Es erscheint mir auch ein bißchen gewalttätig, wenn man jemand zu etwas zwingen will, was seiner seelischen Gesundheit eigentlich not täte. Jeder hat das Recht, nicht über die Vergangenheit zu reden. Das ist nicht schön. Aber was da nicht von selber kommt, findet eben nicht statt. Die private Haltung eines Menschen zu seiner Vergangenheit ist auch nicht relevant. Sollte er aber anfangen, in der Öffentlichkeit ein Geschichtsbild nach seiner Vorstellung zu verbreiten, werden wir ihm kräftig widersprechen. Und sollte er ein Amt anstreben, dann werden wir ihm in der Biographie rumstochern.
Heißt das, Vergangenheitsbewältigung kann es gar nicht geben?
Vergangenheitsaufarbeitung ist eine falsche Metapher. Sie können einen Berg von Akten aufarbeiten, dann ist er weg. Die Vergangenheit aber wird ständig neu geschrieben, sonst gäb's nicht neueste Bücher über das Römische Reich. Es gibt keinen Weg — außer über die Gerichte —, hart nachzufassen und Biographisches an die Öffentlichkeit zu ziehen. Man kann doch nicht sagen, die Privatsphäre ist geschützt — aber nur wenn es 'ne feine ist.
Sie raten also den Forums-Initiatioren, die Finger davon zu lassen?
Wenn sie es sehr stark auf Biographien konzentrieren, wird es entweder peinlich, weil die Täter ihre dummen Ausreden wiederholen, oder weil sie gar nicht erst kommen oder weil ein paar Reumütige vorgeführt werden. Wenn sie sagen, ich bin immer noch der Meinung, daß das alles richtig war, wird es heißen: unverbesserlich. Sagen sie aber allzu freimütig, daß alles verkehrt war, wird es heißen: Warum hast du das nicht früher gemerkt? Es wird so oder so unappetitlich.
Sie haben an anderer Stelle Diktatoren mit Geiselnehmern verglichen. Die Geiseln müssen, um ihre Fesseln zu lockern oder vielleicht sogar freizukommen, mit dem Geiselnehmer verhandeln. Wo ist es ein überlebensnotwendiges Arrangement und wo Kollaboration?
Die Frage lautet eigentlich: Gibt es ein moralisches Kriterium, das jedermann zumutbar ist? Gibt es einen Universalismus in der Moral? Postmoderne Westler sagen dazu das, was uns die Marxisten auch immer gepredigt haben: Alle Moral ist relativ und gesellschaftlich bedingt. Ich behaupte aber, daß es Universalismen in der Moral gibt. Das sind die Regeln der Nahbeziehung. Wo sie auch hingucken — einen Freund zu verraten, gilt überall als Schweinerei, wird überall verachtet.
Viele Ostdeutsche behaupten, in der DDR hätte man gelernt, mit der „Wahrheit zu lügen“.
Die Stasi selbst hatte ja zur Beurteilung ihrer Informanten die Kategorie „ehrlich“. Ein Spitzel, der ehrlich ist, belügt die Stasi nicht, sondern seine Opfer. Die Stasi selbst hat ja immer gefragt: ,Sagst du denn die Wahrheit?‘ Dann muß der Spitzel doch gewußt haben, was ,Wahrheit sagen‘ ist. Wenn jemand sich dieses Unterscheidungsvermögen durch die Ideologie hat ausreden lassen, dann hat er einen Defekt erworben.
In Bonn will man eine Enquete- Kommission, Johannes Gerster fordert einen Untersuchungsausschuß zur DDR-Vergangenheit.
Eine Enquetekommission könnte ich mir vorstellen, zum Beispiel unter der Frage der Verantwortung. Ein Untersuchungsausschuß müßte klar definieren, was er untersuchen soll. Normalerweise bezieht sich ein Untersuchungsausschuß auf ein Handeln der dem Parlament zugeordneten Regierung. Das ist ja hier nicht der Fall.
Wie sollte man mit enttarnten Spitzeln umgehen?
Es muß eine Praxis geben, bei der selbstverständlich auch Stasi-Geschichten verjähren können. Es ist völlig absurd, daß jemand, der in den letzten 40 Jahren irgendwann mal mit der Stasi zu tun hatte, behandelt wird, als sei er 1989 noch dabeigewesen. Wer da selber ausgestiegen ist, hat Zivilcourage gezeigt.
Sollte man die Akten wieder schließen?
Ich bin nicht dafür, von einem Extrem ins andere zu fallen. Es geht darum, verschiedene Kategorien von Akten auch auf ihren Aussagewert hin verschieden zu behandeln. Aber es geht nicht darum, daß man den Deckel wieder draufsetzt. Gespräch: Bascha Mika
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