INTERVIEW: »Marzahn war ein Sammellager für das KZ«
■ Otto Rosenberg lebte als Kind mit seiner Familie im »Zigeunerlager Marzahn« und überlebte das KZ Auschwitz
Otto Rosenberg war acht Jahre alt, als er mit seiner Familie in das Lager Marzahn kam. 1943 wurde er in das KZ Auschwitz deportiert. Heute ist er in Berlin Vorsitzender der Sinti-Union.
taz: Wie erlebten Sie 1936 Ihren Abtransport nach Marzahn? Waren sie vorgewarnt?
Rosenberg: Nein, nein. Wir wußten überhaupt nichts. Morgens früh gegen drei Uhr kam die SA mit der hiesigen Polizei auf unseren Stellplatz in Bohnsdorf. Die haben einfach unsere beiden Wohnwagen auf Lastwagen gestellt und nach Marzahn gebracht. Dort war erst nichts als hohes Gras, später haben sie dann zwei Toiletten gebaut und einige Pumpen als Wasserstellen...
Das war ein Platz, auf dem sich Sinti und Roma nie niedergelassen hätten?
Nein, schon wegen der Unreinheit nicht. Es waren ja ehemalige Rieselfelder. Wir sind gezwungen worden, dort zu wohnen. Dann hat man nach einer gewissen Zeit Baracken für uns gebaut, für die Schule, die Krankenstation und die Polizei, die wir dann später als sehr streng kennenlernten.
Die Polizei war immer im Lager?
Die waren Tag und Nacht dort. Einige Beamte waren sehr nett. Aber andere waren sehr, sehr schlecht, die haben Leute mitunter grundlos geschlagen. Wenn man das Lager verlassen wollte, mußte man an der Polizeibaracke vorbei und wurde kontrolliert.
Konnten Sie das Lager verlassen?
Nein, es war nicht eingezäunt. Deshalb wurde ja auch Marzahn nicht anerkannt als Lager, wahrscheinlich weil kein elektrischer Stacheldraht drum herum war. Aber wo sollten wir denn hin, nachdem der Bevölkerung klargemacht wurde, daß jeder, der aussieht wie ein Sinti oder Roma, sofort angezeigt werden muß. Aber raus konnten wir schon, wir sind ja zur Arbeit gegangen.
Sie wurden nicht verpflegt?
Es war große Not im Lager. Es war nicht so, daß die Leute viel Geld hatten und problemlos leben konnten. Wir als Kinder haben bei den Ortsbauern gearbeitet, die haben uns 75 Pfennig gegeben am Tag und eine oder zwei Butterstullen. Es gab da noch ein Lebensmittelgeschäft auf dem Platz, das wurde von Reichsdeutschen geführt. Wir haben auch vorne in den Marzahner Geschäften einkaufen können. Also, stark diskriminiert wurden wir nicht von der Bevölkerung in Marzahn, die haben uns unbehelligt gelassen und nicht gepeinigt.
Und wie waren die Verhältnisse bei der Arbeit?
Als ich vierzehn war, bekam ich eine Vermittlung in einen Rüstungsbetrieb, wo ich arbeiten mußte. Zuerst war alles gut, bis auf einmal der Meister zu mir sagte: »Otto, du darfst jetzt nicht mehr an der Gemeinschaftsverpflegung teilnehmen und bekommst auch keine Schwerarbeiterkarte mehr«. Das war 1942, denn 1943 bin ich ja schon nach Auschwitz gekommen.
Wurden zu dieser Zeit auch die Verhältnisse im Lager schlimmer?
Es gab fast nichts mehr zu kaufen. Unsere Lebensmittelkarten waren gekürzt, das war weniger als bei der Normalbevölkerung.
In das Lager kamen auch »Rassenforscher«?
Die hatten solche Tafeln mit Augenfarbe, -stellung und Haarfarben, und dann haben sie Augen und Zähne und alles vermessen. Die wollten wohl feststellen, wer ein »echter« Sinti oder Roma ist. Aber ob sie echt waren oder nicht, bis auf ein paar Familien sind sie alle nach Auschwitz gekommen.
Das war auch der Zweck von Marzahn?
Ja. Ich halte heute Marzahn für ein Sammellager zur Erforschung der Sinti und Roma und für den Abtransport ins KZ. Interview: Theo Weisenburger
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