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INTERVIEW„Scham ist eines der ekligsten Gefühle“

■ Was treibt die ehemaligen Spitzel der Stasi in politische Ämter und öffentliche Positionen?/ Machtgier und Geltungsbedürfnis sind als Erklärung nicht ausreichend, meint die Ostberliner Psychotherapeutin Annette Simon

taz: Wer sich in Gefahr begibt, heißt es, kommt darin um. Warum haben sich so viele Stasi-Spitzel nach der Wende in politische Ämter, in öffentliche Positionen begeben? Die Gefahr, überprüft und entdeckt zu werden, ist dabei enorm groß. Die meisten hätten sich ohne weiteres mit einem respektablen Ruf ins Private zurückziehen können.

Annette Simon: Es gibt nicht den IM. Die Frage kann man nur genau beantworten, wenn man sich das Einzelschicksal ansieht. Ich glaube nicht, daß es die DDR-Psyche oder die IM-Psyche gibt.

Trotzdem ist dieses Phänomen doch erstaunlich häufig aufgetreten.

Viele, wie Wolfgang Schnur und Ibrahim Böhme, haben sich nach der Wende überhaupt keine Zeit gelassen. Es war ihr Weg, Selbsterkenntnis zu vermeiden, indem sie immer in Aktion blieben. Wenn sie ausgestiegen wären, hätte es bedeutet: Neubesinnung, Pause, Ruhe. Ein Loch, eine Leere. Aber dieses Loch muß wieder gefüllt werden. Wenn der Aktivitätsmotor weiterläuft, weicht man dem Hingucken aus.

Steckt da nicht auch ein Trieb zur Macht und ein starkes Geltungsbedürfnis dahinter?

Ein IM hatte auf geheime Weise Teil an der Macht. Dadurch fühlte er sich diesem Staat nicht so ausgeliefert. Aber dieses Bedürfnis, immer obenauf schwimmen zu wollen, wie ein Fettauge auf der Suppe, ist nur die eine Seite. Die andere ist die Zwiespältigkeit dieser Menschen. Ich denke, sie wollten nach der Wende auch etwas Gutes bewirken und etwas wiedergutmachen.

Meinen Sie eine Art Sühne? Das würde voraussetzen, daß sich jemand seiner Schuld bewußt ist, ein Unrechtsbewußtsein entwickelt hat.

Nach außen wirkt es häufig so, zum Beispiel bei Schnur oder Böhme, als hätten sie dieses Unrechtsbewußtsein nicht. Um das zu entwickeln, braucht man einen geschützten Raum. Auch um ein Schamgefühl zuzulassen: Scham darüber, was man gemacht hat und was man mit sich hat machen lassen. Das ist ja eines der ekligsten Gefühle, ein ganz durchdringendes, das jeder versuchen wird zu vermeiden. Und das öffentliche An-den-Pranger-Stellen fördert natürlich die Abwehr.

Aber viele IMs wären der öffentlichen Bloßstellung entgangen, wenn sie sich nicht in die Öffentlichkeit begeben hätten. Niemand hätte sie gehindert, in einem privaten, geschützten Raum mit ihrer Vergangenheit leben zu lernen.

Da spielt vielleicht der unbewußte Wunsch eine Rolle, doch mal entdeckt — und dadurch auch erlöst zu werden von der Last.

Ein öffentliches Bekenntnis, weil ein stilles nicht reicht?

Eher, weil ein Selbstbekenntnis nicht geht. Wenn es von außen kommt, muß ich mich dem ja stellen, dann kann ich nicht mehr ausweichen.

Warum leugnen dann die Enttarnten, bis es überhaupt nicht mehr geht?

Weil gleichzeitig der Gesichtsverlust kaum zu ertragen ist. Diese schreckliche Scham versucht man so lange es geht von sich wegzuhalten. Und dann entsteht der Eindruck von Schamlosigkeit. Die ist aber eher eine Schamabwehr.

Die Angst vor Gesichtsverlust ist aber immer noch größer als das Entlastungsbedürfnis?

Das Entlastungsbedürfnis hat jemanden vielleicht dazu getrieben, sich in die Öffentlichkeit zu begeben. Aber aktuell ist die Angst immer stärker. Während mit mehr Abstand die eigene Destruktivität eher angesehen werden kann. So hat es der ehemalige IM Andreas Sinaskowski gemacht, der sich selbst enttarnte.

Glauben Sie, daß den ehemaligen IMs das Risiko überhaupt klar war?

Da spielt die Hoffnung mit: Wenn ich in einer mächtigen Position sitze, dann habe ich alles im Griff. Das ist noch das alte DDR-Denken. In der DDR konnte man in der entsprechenden Position sehr viel unter der Decke halten.

Offenbar fiel es früheren Stasi-Zuträgern gar nicht schwer, nach der Wende eine politische Überzeugung zu propagieren, die sie im Dienste des MfS denunziert haben.

Spitzel haben ihre Opfer häufig bewundert und geliebt. Ein guter IM konnte ja nicht funktionieren, wenn er sich nicht auch identifiziert hat mit denen, die er aushorchte. Später konnte er versuchen, die Identifizierung zur Stasi zu lösen und dafür die Identifizierung mit der anderen Seite zu leben — endlich auch dazuzugehören.

Das würde aber voraussetzen, daß er sein Opfer nicht als Feind betrachtet hat.

Das war wohl auch nicht immer so. Monika H., die die „Frauen für den Frieden“ ausgespäht hat, hat ihren Standpunkt gewechselt: Wenn sie mit den Frauen zusammen war, hat sie sie als Freundinnen betrachtet und sich in vielem wirklich identifiziert. Sprach sie mit ihrem Führungsoffizier, waren die Frauen wieder ihre Feinde. So stand sie weder den Frauen noch dem Führungsoffizier wirklich nahe und hatte zu niemandem echten Kontakt.

Aber es gab doch libidinöse Beziehungen zwischen Führungsoffizieren und ihren IMs?

Das sieht so aus, ja. Das MfS hat sich offenbar Mühe gegeben, diese Bindung ganz extrem auszubauen, sie bewußt eingesetzt und ausgenutzt.

Hatte das Verhältnis zwischen Führungsoffizier und IM nicht viele Aspekte einer therapeutischen Beziehung? Die Spitzel wußten, da ist immer jemand für mich da, und der muß mir von Berufs wegen zuhören.

Das stimmt auf jeden Fall. Ich bin mir nur nicht darüber im klaren, ob die Stasi wußte, daß sie quasi-therapeutische Beziehungen aufgebaut hat. Auf jeden Fall haben sie als solche funktioniert. Um so schlimmer für die Spitzel, wenn sie aus der Illusion aufwachten. Interview: Bascha Mika

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