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INTERVIEW„Das Grundproblem ist nicht nur Stolpe“

■ Der frühere DDR-Oppositionelle und Autor Lutz Rathenow: SPD verliert mit Stolpe Vertrauensvorschuß

taz: Welches Ergebnis hatte für Sie die Diskussion zwischen Bürgerrechtlern und Manfred Stolpe in der Gethsemane-Kirche?

Lutz Rathenow: Sie hat den Status quo zementiert. Für mich tritt außerdem ein Manfred Stolpe in Erscheinung, der nicht identisch ist mit dem, den ich aus DDR-Zeiten kenne. Schon das Wort „Sowjetimperium“ hätte er damals nie gebraucht...

Gibt es nicht aber auch einen identischen Stolpe, der, der damals in der Lage war, seine Kontakte zur Stasi nach außen zu verschleiern, und das auch heute noch kann?

Als Taktiker par excellence: Ja, da sehe ich Ähnlichkeiten. Aber das Grundproblem ist für mich gar nicht nur Stolpe, sondern das Verhalten, die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche, die offenbar an wenige Personen delegiert wurde. Es ist ein absolutes Unding, daß ein Mensch 20 Jahre lang Geheimverhandlungen mit einem Apparat, der einige Hunderttausend Mitarbeiter hat, führen kann. Dieser Rolle kann überhaupt niemand gewachsen sein. Es ist ein Fiasko, in einem so heiklen Bereich einem Menschen totalen Freiraum zu lassen. Wenn es jetzt der Kirche nicht gelingt, sich einer selbstkritischen Betrachtung zu stellen, unterliegt sie auch in Zukunft einer aus der DDR- Zeit nachwirkenden Wahrnehmungsunfähigkeit. Alle Dokumente, die jetzt aus Kirchensicht vorgelegt werden, sind wertlos, da ja selbst Forck und andere Bischöfe vorgeben, nichts gewußt zu haben. Wertlos ist für mich auch der parlamentarische Untersuchungsausschuß in Potsdam, der sich jetzt voll auf die Vertrauenswürdigkeit der Kirche berufen will, indem er deren Würdenträger zur Entlastung Stolpes vorlädt. In diesen Untersuchungsausschuß müßten ganz dringend die Personen vorgeladen werden, die mit ihm in Konflikt geraten waren.

Wer wäre das?

Das wären zum Beispiel die Teilnehmer der Friedenswerkstatt 1983 in der Erlöserkirche. Ich weiß noch genau, daß Manfred Stolpe damals verhinderte, daß eine Dokumentation aus Jena zur Ausbürgerung von Roland Jahn aufgehängt werden durfte. Wir als Opposition haben natürlich auch ständig Fehler gemacht. Einer davon war, daß wir Manfred Stolpe zu sehr in seiner Rolle angenommen haben. Ich habe mich auch zweimal mit persönlichen Anliegen an ihn gewandt, wohlwissend, daß er es an den Staatsapparat unter Umständen weiterträgt. Allerdings nicht wissend, daß er bewußt die Staatssicherheit informiert.

Eine prinzipielle Kritik: „Konflikte herunterzufahren, damit es weitergeht“, wie Stolpe sagt, war letztlich genau die Absicht der Staatssicherheit. Das war allerdings auch die Linie der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR. Der Kreis der Verteidiger Stolpes ist deshalb so groß, weil nun die Kirchenpolitik insgesamt, Teile der Deutschlandpolitik und deren bundesdeutsche Vertreter mit infrage gestellt sind.

Wie hätte sich Stolpe nach der Wende verhalten müssen?

Ich selbst würde es für möglich halten, daß jemand vom Format eines Manfred Stolpe nach rückhaltlosen, radikalen Selbstreflexionen durchaus seine politischen Ämter hätte behalten können, vielleicht sogar gestärkt aus der Auseinandersetzung hervorgeht. Was ihm immens geschadet hat und was fast noch empörender ist als die Vorgänge der Vergangenheit selbst, ist die plumpe und zum Teil dümmliche Art seiner Selbstverteidigung.

Welche Politik darf von einem Mann wie Stolpe heute erwartet werden?

Wenn sich Stolpe nicht zur Erkenntnis durchringen kann, von der Staatssicherheit mißbraucht worden zu sein, dann muß ich seine politische Wahrnehmungsfähigkeit auch für heute infrage stellen. Hinzu kommt, daß die SPD in dieser Diskussion ihren gesamten Vertrauensvorschuß verbraucht, das sie in Ostdeutschland als quasi neue Partei genossen hat. Ich finde, daß sich Stolpe eine politische Bedenkpause zur Beendigung seiner Memoiren verschreiben sollte. Interview: Barbara Geier

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