INTERVIEW: Das Älterwerden verschlafen
■ Arthur E. Imhof, Prof. für Sozialgeschichte und historische Demographie an der FU Berlin, zur veränderten Altersstruktur und zur Verantwortung von Singles gegenüber der Gesellschaft
taz: Herr Imhof, Ihre Berechnung, nach der das Christentum im kommenden Jahrhundert ins Hintertreffen geraten wird, weil dann auch die Menschen in den heute unterentwickelten Regionen dieser Welt älter werden und die meisten Menschen Moslems sein werden, könnte mißverstanden werden...
Imhof: Ich werte das Phänomen ja nicht, ich bin Historiker. Aber das ist es doch, was auf die nächste Generation zukommt. Und das sage ich auch meinen Studenten. Ich reise in diese Länder und versuche, mein Wissen dort einzusetzen; und sehe dabei, wo uns andere Kulturen überlegen sind. So wächst auch hier das Interesse für andere Kulturen. Ich will darauf hinwirken, daß es nicht auf einmal zu einem großen Knall zwischen unserer und den anderen Kulturen kommt.
Sie finden es, wie sich in einem Ihrer Referate herausstellte, „erschreckend“, daß es in Berlin so viele alte Frauen gibt. Was ängstigt Sie denn daran so sehr?
Das ist in Berlin erfahrbarer als anderswo. Das sehen Sie schon im Café Kranzler am Kurfürstendamm. In Berlin sind in der Mehrzahl Frauen „übriggeblieben“, und deshalb sind sie es, die häufiger Altersselbstmord begehen. Das ist das Erschreckende.
Hat die Bundesrepublik nicht bemerkt, daß sich die Altersstruktur der Bevölkerung verändert?
Das ist nicht die Schuld der Gesellschaft. Das liegt bei jedem einzelnen. In unserer Vorstellung leben wir immer noch im Vorgestern. Dabei sind wir die ersten, die ihr Leben ohne Pest und Krieg leben können. Wir haben keine angemessenen Antworten darauf. Wir werden nicht auf die lange Phase des Alters vorbereitet, nur auf die Schule und den Beruf, und das war's dann.
Studenten sollen also eher an ihre Rente denken?
Nein, aber zumindest bewußt auch auf diesen Lebensabschnitt zuleben, der immerhin sehr lang sein kann.
Sie haben hier aufgezeigt, daß die heile Großfamilie, in deren Kreis nach erfülltem Leben gestorben wurde, eine romantisierende Wunschvorstellung ist.
Ja, schon deshalb, weil die meisten Menschen gar nicht so alt wurden, daß mehrere Generationen harmonisch zusammenleben konnten. Das ist reine Projektion, dieser Mythos von der Großfamilie.
In einer Graphik zeigen Sie den „Leerlauf“ im heutigen Frauenleben — mit einer relativ kurzen Phase von Schwangerschaften und Kinderaufzucht. Ist der längere Rest für Sie kein erfülltes Leben?
Das frage ich nicht die Frauen, das frage ich als Historiker die Gesellschaft. Ich will nur zeigen, wo wir stehen. Wir reagieren nicht angemessen auf diese Situation. Wir können das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen. Aber wir müssen die Relevanz der Entwicklungslinien erkennen.
Welche Antwort haben Sie selbst gefunden?
Ich bin selber Single. Ich lebe also ungebunden und habe mehr Freiheiten. Allerdings bin ich der Meinung, daß Singles eine höhere Verantwortung der Gesellschaft gegenüber haben; sie müssen sich deshalb mehr engagieren.
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