INTERVIEW: „Wundervolle Versprechungen“
■ Raymond Crotty, Dozent am Trinity College Dublin und Mitbegründer der „Nationalen Plattform“, ist gegen die Verträge: „Wir haben völlig andere Probleme als Europa“
taz: Sie sind 1972 gegen Irlands Beitritt zur EG eingetreten und haben 1987 per Gerichtsbeschluß ein Referendum zur Einheitlichen Europäischen Akte erzwungen. Welche Nachteile hätte Irland, wenn die Maastrichter Verträge ratifiziert würden?
Raymond Crotty: Die Europäische Währungsunion wäre für Irland sehr schädlich. Die Ressourcen würden von der Peripherie abgezogen und im Zentrum investiert, wo sie mehr Profit bringen. Dieses Problem wird in den Maastrichter Verträgen völlig ignoriert. Die Folge wären Arbeitslosigkeit und Auswanderung. Dasselbe geschieht ja in kleinerem Maßstab bereits innerhalb Irlands, wo die entlegenen Provinzen im Westen des Landes ausbluten. Die Maastrichter Verträge sind allerdings mit der Ablehnung Dänemarks bereits gestorben. Jeder Versuch der elf übrigen EG-Mitgliedsstaaten, sie dennoch umzusetzen, wäre ein Bruch der Römischen Gründungsverträge der Gemeinschaft. Dagegen kann man vor dem höchsten irischen Gericht klagen, was ich zweifellos auch tun würde.
Vier der fünf Parlamentsparteien malen in ihren Kampagnen Irlands ökonomischen Untergang aus, falls die Verträge abgelehnt werden sollten. Wie sehen Sie das?
Uns wurden ja schon vor dem EG-Beitritt 1972 wundervolle Versprechungen gemacht. Damals hieß es, 1980 hätten wir Vollbeschäftigung. Ich warnte jedoch schon damals, daß wir mit einer Viertelmillion Arbeitslosen rechnen müßten. Heute sind es fast 300.000, und bis Ende des Jahrhunderts werden wir 400.000 Arbeitslose haben. Kein Land kann sich auf Dauer eine derartige Arbeitslosigkeit in Höhe von 20 Prozent leisten, ohne die Sozialleistungen drastisch einzuschränken. Und das würde wiederum zu einem Aufruhr der Bevölkerung führen.
Viele IrInnen glauben, daß sich Frauenrechte und Umweltgesetze in Irland nur über den Umweg EG und Brüssel durchsetzen lassen, weil die Dubliner Regierung in dieser Hinsicht untätig bleibt. Was halten Sie davon?
Was nützen Umweltschutz und Frauenrechte, wenn die Frauen keine Jobs haben, wenn ihre Männer arbeitslos sind und jedes zweite Kind später auswandern muß? Diese Menschen haben überhaupt keine Rechte, sie können nicht mal für ihren Unterhalt sorgen.
Auf der Seite der Maastricht-Gegner haben sich merkwürdige Allianzen gebildet. Sowohl Abtreibungsgegner als auch -befürworter lehnen die Verträge ab. Sie selbst haben auf einer Veranstaltung der „Lebensschützer“ gesprochen. Warum?
Es gibt auf beiden Seiten merkwürdige Allianzen. Wenn man die Gesellschaft in der Mitte spaltet, kann man nichts anderes erwarten. Ich habe auf Veranstaltungen der Abtreibungsgegner gesprochen, weil sich diese Gruppen auch dafür interessieren, was uns die Verträge eigentlich kosten.
Wie sieht Ihr Europa aus, sollten die Verträge zu Fall gebracht werden?
Wir haben völlig andere Probleme als das übrige Europa. Das liegt daran, daß wir eine ehemalige Kolonie sind, während die anderen Länder früher Kolonialmächte waren. Bereits im vergangenen Jahrhundert mußte die Hälfte der irischen Bevölkerung auswandern. Dieses Problem ist bis heute nicht gelöst, und Europa kann uns dabei nicht helfen. Das müssen wir schon selbst als unabhängiger Staat tun. Wenn die Maastrichter Verträge abgelehnt und neu verhandelt werden, hoffe ich, daß unsere Regierung ihre Einwände an den Punkten geltend macht, um die es geht: Brot und Butter, Leben und Tod, Krieg und Frieden.
Die irische Neutralität ist doch lediglich negativ formuliert. Solange ein Nato-Staat einen Teil Irlands besetzt halte, könne Irland nicht der Nato beitreten, heißt es.
Ich glaube, viele Menschen sehen unsere Neutralität inzwischen in einem positiveren Licht. Die Kolonialmächte haben die Dritte Welt geschaffen. Als neutrale Ex-Kolonie verfügen wir über das einzigartige Potential, als Mittlerin zwischen beiden zu fungieren. Es ist eine entsetzliche Vorstellung, daß wir an zukünftigen Kriegen um Ressourcen teilnehmen sollen.
Wie lautet Ihre Prognose für den Volksentscheid?
Das Referendum wird sehr knapp ausgehen, glaube ich. Rechtlich und konstitutionell macht es jedoch keinen Unterschied, ob wir über 50 Prozent der Stimmen gewinnen, weil die Verträge ohnehin gestorben sind. Aber die Anzahl der Neinstimmen ist wichtig, weil sich dadurch die Stimmung in der Bevölkerung ausdrückt. Das hätte große politische Bedeutung. Interview: Ralf Sotscheck
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