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INTERVIEW„Aus den Fehlern der Afrikaner lernen“

■ Der indische Aids-Experte Dr. Chandra Mouli über die Chancen, die rasante Ausbreitung von Aids in Asien aufzuhalten

Dr. Mouli arbeitet am All India Institut of Medical Sciences in New Delhi. Zuvor war er viele Jahre in Sambia in der Aids-Prävention tätig. 52 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Asien. In diesen Kontinent ist das Virus relativ spät eingedrungen. Aber die neuesten Zahlen dokumentieren vor allem für Süd- und Südostasien eine rasante Ausbreitung von HIV, vor allem über heterosexuelle Kontakte. In Thailand wird gegenwärtig mit 300.000 Infizierten gerechnet, bis zum Jahr 2000 werden es drei Millionen sein. Auch in Indien und Burma „explodiert“ die HIV-Epidemie. „Es gibt die Befürchtung, daß die Ausbreitung von Aids in Süd- und Südostasien ein noch stärkeres Potential hat als in Afrika“, heißt es im neuesten Aids-Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

taz: Läßt sich die stürmische Ausbreitung von Aids in Afrika und jetzt in Asien miteinander vergleichen?

Chandra Mouli: Für alle, die mit Aids zu tun haben, ist das ein déjà-vu. Wir sehen sehr genau, wie dieses Problem in Asien immer massiver wird. Jetzt steckt die Aids-Epidemie dort noch im Anfangsstadium. Natürlich braucht es Zeit, bis die betroffenen Länder auf diese Epidemie reagieren. Wir können nur hoffen, daß sie aus den Fehlern der Afrikaner gelernt haben.

Glauben Sie, daß die asiatischen Staaten in der Lange sind, zu einem früheren Zeitpunkt zu intervenieren, als dies in Afrika geschehen ist?

Es gibt eine kleine Schar von informierten und sehr besorgten Personen im Gesundheitssystem und in der Politik, aber es müssen sehr viel mehr werden. Die meisten Menschen haben noch keinen Aids-Kranken gesehen, weil es zum Beispiel in Indien bisher nur einige hundert Betroffene mit dem Vollbild von Aids gibt. Für ein Land wie Indien mit einer Bevölkerung von 800 Millionen Menschen ist das eine verschwindend geringe Zahl. Die sehr viel größere Zahl der Infizierten sieht niemand. Deshalb befürchte ich, daß es noch eine ganze Zeit dauern wird, bis die staatlichen Instanzen offensiver werden. Ich hoffe noch, aber ich habe ein eher schlechtes Gefühl, und vielleicht wird sich die afrikanische Aids-Geschichte noch einmal wiederholen.

Was könnten die Länder wie Thailand, Burma oder Indien von den Afrikanern lernen?

Die wichtigste Lektion: Wir brauchen frühzeitige Präventionsprogramme. Ein Land wie Indien hat jetzt noch gute Chancen, die Ausbreitung des Virus zu verhindern. In Afrika und in anderen Kontinenten begannen die ersten Verhütungprogramme nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Wir experimentierten viel und mußten erst einmal herausfinden, was geht und was nicht geht. Heute sehen wir klarer. Wenn es eine Lektion für Asien gibt, dann diese: Wir brauchen eine frühzeitige und eine enthusiastische Kampagne gegen Aids, und die gesamte staatliche Gemeinschaft bis hin zu den Vorstehern der kleinen Dörfer muß sich daran beteiligen.

Welche Verbindungen sehen Sie zwischen der Aids-Explosion in Asien und der Prostitution?

Es geht nicht um die Prostitution, sondern um die Armut. Warum, so müssen wir uns fragen, breitet sich Aids in Uganda, Sambia, Indien oder Brasilien so viel schneller aus als etwa in den Niederlanden? Natürlich hat es eine Prostituierte in Bombay, die um das Überleben ihrer Familie ringt, sehr viel schwerer, „nein“ zu einem Freier zu sagen, wenn er kein Kondom benutzen will. Wir dürfen kommerzielle Sexarbeiter nicht als Verbreiter von Aids sehen, sondern als Notleidende und Hoffnungslose, die selbst Opfer von Aids sind.

Stimmen denn die Zahlen, die hier über das Ausmaß der Prostitution genannt werden?

Allein in Bombay gibt es 300.000 Prostituierte auf den Straßen. Für ganz Indien wird mit etwa einer Million Straßenprostituierten gerechnet, dazu kommen noch die Callgirls, die nicht auf der Straße arbeiten. Natürlich ist die Prostitution ein großes Problem. Aber niemand wird all diese Frauen auf HIV testen und ihnen Zertifikate ausstellen können. Das ist Unsinn. Das ist eine andere Lehre aus Afrika: Mit Aggressionen gegen die Aids-Betroffenen wird man nichts erreichen. Es ist wichtiger, die Geschlechtskrankheiten der Prostituierten zu behandeln, als ihnen Zertifikate auszustellen.

Geschlechtskrankheiten gelten in Afrika und Asien als einer der wichtigsten Co-Faktoren für die Ausbreitung von HIV. Liegt darin vielleicht auch ein Schlüssel für die Bekämpfung von Aids?

Studien in Sambia haben gezeigt, daß jede zweite Person, die wegen einer Geschlechtskrankheit in ärztliche Behandlung kam, auch mit dem Aids-Virus infiziert war. Natürlich kann man sich das Virus aber auch holen, ohne eine Geschlechtskrankheit zu haben.

Auf dem afrikanischen Kontinent wird es — als Folge von Aids — bis zum Jahr 2000 nicht weniger als 20 Millionen Waisenkinder geben. Was bedeutet das für die afrikanische Gesellschaft?

Die Vereinten Nationen haben die verschiedenen Wellen der Aids-Epidemie in den Entwicklungsländern sehr genau beschrieben. Zuerst haben wir die verborgene Epidemie des Aids-Virus, das immer mehr Menschen infiziert. Dann gibt es nach einigen Jahren immer mehr Kranke und Tote. Dann folgt als nächste Welle der soziale und ökonomische Einbruch, weil mit der sexuell aktiven auch die produktivste Altersgruppe krank und für den Aufbau der Länder fehlen wird. Die nächste Welle ist dann das Problem der Überlebenden. Dazu gehören aber nicht nur die Waisen, sondern auch die Alten, die ja selbst Hilfe brauchen. Jede einzelne dieser Wellen der Aids-Epidemie wird in Afrika in den nächsten Jahren zunehmen. Es gibt also sehr viele Probleme, und doch sollten wir die Lektionen nicht vergessen, die uns Afrika gelehrt hat. Die Antwort der Dörfer und Gemeinden auf Aids in Zimbabwe, in Sambia, in Südafrika und in vielen anderen afrikanischen Ländern ist inzwischen durchaus erfolgreich. Es gibt jetzt auch mit der Kirche einen sehr viel größeren Konsens in der Aids-Bekämpfung.

Wie beurteilen Sie die Haltung, mit der die westlichen Industrienationen als Zuschauer die Aids-Explosion in Afrika und Asien betrachten?

Es gibt gute und schlechte Aids- Programme, die mit westlicher Hilfe zustandegekommen sind. Es gibt gute und schlechte Experten, die in unsere Länder kommen. Es gibt auch Sex-Touristen, die zu uns reisen oder nach Thailand. Ich möchte aber eines sagen: Die Industrienationen reden viel über Hilfe zur Selbsthilfe. Aber wenn Sie einen alten Großvater mit zwölf Waisenkindern haben, dann gibt es keine Selbsthilfe mehr, sondern nur noch Hilfe, um zu überleben. Wir brauchen die Unterstützung der Industrienationen, aber wir müssen auch unsere eigenen Ressourcen noch stärker gegen Aids mobilisieren. Interview: Manfred Kriener

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